Journal27092020
Demenz und Corona. Eine Last, die sich nur mit einer nach oben offenen Skala messen lässt.
Demenz und Corona. Eine Last, die sich nur mit einer nach oben offenen Skala messen lässt.
Noch drei Grad kälter als gestern. Das Frieren nicht verlernt. Der Körper wehrt sich heftig und nimmt die rationalen Fakten nicht zur Kenntnis. Es ist immerhin zehn Grad über Null.
Erinnerungen. Völlig unmotiviert brechen sie über mich herein. Einmal in meinem Leben wurde ich als Kind mit einem Pappschild in den Zug gesetzt.
Zweimal um ehrlich zu sein, denn die Rückfahrt zählt auch.
Weiß nicht genau, was diese sechs Wochen mit mir gemacht haben. Ich hab die Freiheit der Lieblosigkeit, in der ich aufgewachsen bin, zu schätzen gelernt. Seither verachte ich alles, das unter dem Schutzmäntelchen der Liebe mit Ketten rasselt.
Lasst mich in Ruhe. Lasst mich einfach sein.
Der Herbst hat den Schalter umgelegt und klar gemacht, was Sache ist. Kalt und windig ist es draußen.
Und drinnen. Im Gemüt. Alles zu viel, zu schwer, zu schnell, zu wichtig. Weit und breit keine Notbremse in Sicht.
Nicht mal mehr die Neuinfektionen jucken mich. Irgendwann ist das auch nur noch ein Teil der Geschichte.
Ich sehe lieber den Wolken beim Vorbeiziehen zu.
Und den Sonnenblumen, die auf dem Balkon tanzen.
In den Erinnerungen tauchen die Fotos aus Llanca auf. Jahr um Jahr verbrachte ich diese Zeit in Llanca. Übrig bleibt ein leichtes Ziehen in der Brust. Heimweh nach einem kleinen Ort.
Natürlich ist das schändlich untertrieben, an der Grenze zur Lüge. Die Wahrheit ist: es tut nicht nur weh, ich bin auch orientierungslos. Ein wichtiger Pfeiler im meinem Jahresrhythmus ist eingebrochen.
Wird lange dauern, bis ein anderer nachwächst.
Es ist dunkel und kalt, wenn ich morgens das Haus verlasse. Ein kleiner Vorgeschmack auf die kalte Jahreszeit.
Seit ich morgens meinen Fußweg zurücklege, seit den frühen Corona-Tagen im März hat es nur an einer Handvoll Tagen geregnet, wenn ich unterwegs war. Eine leicht gruselige Bilanz.
Mein Verhältnis zu meiner Arbeit nimmt in diesen Wochen seltsame Züge an. Ich komme mir vor, wie durch den Fleischwolf gedreht und wie auf einem surrealistischem Gemälde, bin ich selbst die Person, die mich in den Fleischwolf stopft.
Hartnäckig und unbeugsam.
Den Aufmerksamkeitszirkel eng einstellen. Die schlimmsten Medienberichte ausblenden und mich in meiner kleinen Filterbubble einrichten.
Überlebensnotwendig.
Da sonst die Wellen der Boshaftigkeit über meinem Leben zusammenschlagen.
Die Nacht schleicht sich in mein Herz.
Sie schmeichelt mit Lichtern und tröstet mit Sternen.
Lasst uns das Thema wechseln.
Steigen wir gleich ein in die Königinnendisziplin.
Weltschmerz. Damit kenne ich mich aus. Die hohe Kunst des Weltschmerz zelebrieren.
Einen Liebesteppich ausbreiten. Für die Menschheit.
Weil sie ohne gar nicht leben kann.
Der Oleander aus Llanca entfaltet eine weiße Blüte. Wette verloren. Der zweite Ableger schweigt vor sich hin, vielleicht gibt er seine Blütenfarbe im nächsten Sommer preis.
Auf dem Balkon herrscht ständig Durst. Die Sonnenblumen lassen ihre Flügel hängen, ich bin eine unzulängliche Pflanzenhüterin.
Heute morgen wieder zu Fuss durch das Viertel gestreift. In dieser Wohngegend packt die Obdachlosigkeit ihre Armut in ein gefälliges Gesicht. Eine halbe Stunde später, dann ist von ihren Schlafplätzen nichts mehr zu sehen. Kein Krümmelchen, kein Müll, kein unangenehmer Geruch. Sie können nur bleiben, wenn sie unsichtbar sind. Den Sinnen nicht zugänglich.
Und sie beherrschen das alle auf ihre Art. Die große Gruppe Sinti und Roma, die traumatisierte Frau, die beiden Wandervögel.
Wie viel mehr Obdachlosigkeit noch da sein mag, die ich komplett nicht sehe, weiß ich nicht. Die Statistik sagt: ne ganze Menge.
Da draußen scheint es irgendwo ein großes schwarzes Loch zu geben, in dem alle Lebensenergie verschwindet. Ein großer Weltenabfluss für Emotionen und Gefühle.
Ich laufe schon eine Weile auf Autopilot, ignoriere so weit es geht die Medien und bin dennoch durchdrungen vom Elend der Welt.
So fühlt sich also das Altwerden für mich an. Die Welt lastet auf meinen Schultern mit ihrem Gewicht.
Das ist seltsam, denn unter der Oberfläche wächst etwas Neues heran. Ich ahne es mehr, als dass ich es spüre.
Ich wittere es.