Auf dem Messplatz ist die Dippemess aufgebaut. Mit Riesenrad, Achterbahn und riesigen Kränen, die sich um alle Achsen drehen. Ein Hauch von Pandemie weht über das auf 5.000 Menschen beschränkte Gelände. Das Leben geht also weiter.
Im Pflegeheim wird immer noch streng separiert. Pech, wenn deine Gesprächspartnerin aus der anderen Gruppe ist. Da seht ihr euch erst im nächsten Leben wieder.
Ich taste mich durch das neue Leben mit wunder Seele. In der Arbeit lege ich Regeln streng aus, im Privatleben habe ich das Privileg, nach meiner eigenen Risikoabschätzung zu leben zu können. (Also vorsichtig.) Das ist mehr, als viele andere Menschen im Moment an Freiheit und Sicherheit haben.
In meinem Terminkalender taucht neuerdings wieder eine unbekannte Spezies von Terminen auf. Private Treffen, die nicht zur Kategorie Familienorganisation gehören. Ich bin in dieser Hinsicht ganz aus der Übung.
Habt ihr schon gesehen, wie sehr der Kalender 2021 zusammenschrumpft?
Vielleicht gibt es im Oktober ein Kartoffelfeuer. Mich würde das sehr glücklich machen.
Das letzte fand vor drei Jahren statt. Ich liebe es, wenn die Funken in den Himmel fliegen. Sterne von oben und unten. Alle guten Wünsche fliegen in die Welt.
Nächste Woche ein Ausnahme-Diensttermin von dem unglaublich viel abh?ngt. Aber niemand kennt das Format in diesem Kontext. Also keine Vorbereitung möglich.
Tiefer Seufzer.
Nachrichten hören.
Tiefer Seufzer.
An die Eltern denken. An den Drahtseilakt und möglichst nicht an das was kommt.
Seufzen. Ausgiebig und tief.
Urlaub planen. Letzter Ausgang zur mentalen Gesundheit. Ein Verkrümelurlaub. Regenerieren als Zwischenziel.
Schwere Zeiten. In vieler Hinsicht. Es gilt Abschied zu nehmen und nicht zu weinen. Aufrecht gehen. Stütze sein. Das Ziel nicht aus den Augen verlieren.
H wie Habicht – könnt ihr lesen. Ist ein gutes Buch. Handelt von Habichten, Trauer, Tod, mentalen Ausnahmezuständen, Falknerei, von Trost finden, von der Jagd und dem Blutrausch und ein bisschen auch vom Sinn des Lebens.
Diese Gesellschaft wiegt sich in einem gefährlich falschem Sicherheitsgefühl. Zuerst hat sie zwei Jahrzehnte damit verbracht, Rechte des Einzelnen für eine gefühlte Bedrohung an eine immer schneller taumelnde abstrakte Staatsmacht zu verhökern. Was war – und ist – das für ein Freudentanz für all die so gar nicht abstrakten rechten Gesellen. Ob krimineller Untergrund, faschistische Polizistinnen-Gruppe, rassistisches SEK oder rechtsradikale Einsatzkräfte gewisser Spezialtruppen der Bundeswehr.
Ein wahres Festfressen am Datentrog! Da können schon mal ein paar Menschenleben auf der Strecke bleiben. Alles im Namen der Sicherheit.
Nur stellt sich jetzt gerade raus, dass dieser Staatsapparat nicht mal das kleine Einmaleins der Katastrophenvorsorge kann. Dass er unvorbereitet und mit Ansage in eine Pandemie reinschlittert und den Ausgang nicht mehr findet. Er kann keine Außenpolitik und schon gar keine Klimakatastrophe handeln. Nicht mal richtig für die Daseinsfürsorge einstehen kann er.
Diese Gesellschaft wiegt sich immer noch in Sicherheit. Sie kann gar nicht mehr anders, weil ihr auf jeglicher Ebene die Einsicht fehlt.
Jede zweite politische Aussage in den täglichen Nachrichten ist mittlerweile eine menschenverachtende Aussage in Bullshit-Formulierung verpackt.
„Die Taliban geben sich moderat.“ Das kann keine Frau, kein queerer Mensch, keine Ateist*in sagen. Das sagen die, die dem nackten Kaiser immer weiter von der Schönheit seiner Kleider vorschwärmen.
Zuviel. Viel zuviel Leid und Schmerz auf dieser Welt.
Ich schließe meine Herzenstür und halte Augen und Ohren bis auf Weiteres geschlossen.
Wo bleibt das Licht, die Liebe, die Hoffnung und der Trost?
(Das Schlimme an all den grausigen Nachrichten z. B aus Afghanistan ist, dass ich mir genau vorstellen kann, unter welchen Umst?nden, sie entstanden sind. Ich ahne die Atmosphäre der Sitzungen, Meetings und Krisengespräche. Ich kann mir vorstellen, was und wie intern geredet wurde und welche Kompetenzen bzw. Nicht-Kompetenzen mit am Tisch sitzen. )
Die Ernten der westlichen Demokratien fallen noch schaler aus als ihre Saat. Jahrzehnte lang wurde Farbe, Struktur und Körniges aus dem demokratischen Gewebe ausgewaschen. Jetzt stehen wir mitten im Regen.
Klimakatastrophe, Pandemie, wachsende Armut und eine unmoralische Schicht, die sich ?ber den Rest der Gesellschaft erhebt.
Wie ein angeschlagenen Boxer taumle ich durch die Tage. Immer ein bisschen zu viel Energie ausgegeben, als wieder reinkam. Es liegt auf der Hand, wie diese Verhaltensweisen enden werden.
Mich krisenbedingt ins Infektionsgeschehen gestürzt. Danach nass bis auf die Haut unterm Baum gestanden. Der Rucksack später auch innen voller Wasser.
Die Parallelwelt Pflegeheim von innen kennengelernt. Freundliche Menschen hinter Masken. Gespräche, die sich im Kreise drehen. Plötzlich bekommt mein Name verschiedene Rollen zugeteilt. Ich nehme jede an, solange mir mein Name bleibt.
Jedes Jahr, wenn es August wird, Sommer, dann kommt die Erinnerung an das Schreckliche. An das Grauen.
An den kleinen Jungen. The Little Boy.
So nannten sie die Bombe. Der Jahrestag kommt und die Glocken läuten.
Nie, nie hab ich das Leid ermessen können.
Hiroshima.
There’s a shadow of a man at Hiroshima where he’d pass the noon in a wonderland at Hiroshima ’neath the August moon And the world remembers his face – remembers the place was here…