Der Herbst holt all seine Seiten raus, kurz blitzt auch seine goldene Ansicht auf. Er lässt sich nicht lumpen, mag es farbenfroh, lebendig, durchgewühlt, überschäumend, traumverhangen, manchmal dröhnend.
Ich habe beschlossen, dass es witterungsbedingt Zeit ist, die Vogel-Futter-Bar zu eröffnen. (In diesem Satz ist ein Hauch von Ironie versteckt.)
Der Blick auf diese Bar schmeichelt dem Herz und balsamiert die Seele.
Treffer. Letzte Woche zum ersten Mal in Pandemiezeiten mit Menschen zusammen gekommen, schon eine fette Erkältung eingehandelt. Das Immunsystem muss wohl erst wieder in die Gänge kommen. Oh, wie mir das stinkt!
Aber gut, so ist das nun mal.
Heute morgen bin ich noch unter meinem Regenschirm durch die dunkle Stadt gelaufen, da war die frische Luft eine Erleichterung. Morgen werde ich wohl passen müssen.
Ansonsten bin ich in meinem Alltagsleben konfrontiert mit unangemessener Empörung, fadenscheinigen Machtspielchen, diversen Abschieden und traurigen Anlässen, sowie einer Reihe von rätselhaften Aggressionsanfällen.
Als Highlight des Herbstes erwartet mich ein Kartoffelfeuer. Das macht alles wieder gut.
Acht Grad und stockdunkel auf dem Weg ins Büro. Trotz Jacke und schnellem Gang war mir sehr kalt. Die Heizung im Büro springt nicht an. Jeden Herbst beginnt das gleiche Glücksspiel: Schaffen Sie es die Anlage im Keller hochzufahren, ohne dass sie in die Luft fliegt? Hört sich spektakulär an, aber ich vermute, dass die Aussagen dazu näher an der Wahrheit sind, als uns allen recht ist.
Nun ja, vielleicht wird in diesem Jahr alles anders. Hat sich eh schon so viel geändert.
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Wenn ich durch die Stadt laufe oder fahre, tippe ich neuerdings meine Umgebung mental durch: Da ein Löwe. Dort ein Wasserspeier. Ah, hier Initialen und dort oben eine Taube.
Ein Nebeneffekt der June’s Journey Spielerei. Ich sehe Dinge, die mir vorher nie aufgefallen sind.
Morgen früh setze ich mich in den Zug und fahre zurück nach Hause. Das Meer aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn. Bin bereit mein Päckchen wieder auf meine Schultern zu laden.
Von den Bundestagswahlen habe ich mir gestern nur im Livestream der Heute Nachrichten um 19 Uhr und der Tagesschau um 20 Uhr etwas flüstern lassen. Zu mehr konnte ich mich nicht aufraffen. Mehr davon konnte ich nicht ertragen.
Ich halte diesen Gemütszustand hier fest, weil er sich so von den vergangenen Wahlen unterscheidet. Da hatten mich die Emotionen noch voll im Griff. Heute sitzt nur die Ratlosigkeit tief.
Wenn ich mir etwas von dieser Gesellschaft wünschen könnte, dann wäre es mehr Wertschätzung der jeweiligen Lebensrealität. Ich würde mir Respekt für die Careberufe wünschen, Respekt für alle, die sich irgendwie kümmern: um Menschen, Kultur und Natur.
Dankbarkeit fürs Miteinander.
Verantwortung für das Gemeinwohl würde ich mir wünschen.
Ich träume weiter, bin noch nicht ganz aufgewacht.
Kann sein, dass ich mich auf- und losgelöst habe in diesen Tagen. In einen bisher unbekannten Aggregatszustand verwandelt. Leicht über dem Boden schwebend.
Alle Wege führen führen uns instinktiv zum Meer. Es ist laut und meine Verdauung gibt mir einen eigenen Rhythmus vor. Schnell begreife ich, dass Widerstand zwecklos ist. Mein Darm zeigt keinerlei Charme, er zeichnet sich aus durch sein autoritäres Gehabe.
Was soll’s. Ich lege mich hin und lese. Dabei bin ich gut aufgehoben.
In einer Atmosphäre voller Leichtigkeit. Ich hab die Sorgen vergessen. Sie abgestellt, irgendwo auf dem Weg hierher. Sie werden sich wieder melden und mit Wucht auf meine Schultern springen. Aber hier und heute sind sie verloren.
Dem Meer entgegen gefahren. Frankfurt – Marseille ist immer eine Zug-Traum-Reise wert.
Vor kurzem las ich einen Artikel darüber wie wir unseren Urlaub in der Konsumgesellschaft inszenieren und warum das so oft schief geht. Da ich bis zur Pandemie meine Urlaube mit Hingabe zelebriert habe, weiß ich sehr genau, wovon der Artikel handelt. Von dem großen Unwohlsein im fremdbestimmten Arbeitsleben. Bei mir wird das noch verstärkt dadurch, dass die Arbeitswelt mit introvertierten Menschen erst recht den Schleudergang einlegt. Daher heißt für mich Urlaub oft: Ruhe, Ruhe, Ruhe.
Und Entfernung.
Und danach noch ein bisschen Ruhe, Ruhe, Ruhe.
Und ein bisschen Luft.
Und Wasser.
Und Ruhe, Ruhe, Ruhe.
Symbolische und metaphorische Ruhe. Die andere nehme ich.
Vor unserem Appartement tanzen vier Baukräne wilde Choreographien.
Dem Meer entgegen fahren. Raus, raus, raus aus diesem Leben. Die Pausentaste drücken und mich in den Zug setzen. Morgen. Weiß gar nicht mehr so richtig wie das geht. Der Koffer sieht mich etwas zickig an, aber ich zicke selbstbewusst zurück.
Es ist eine spezielle Begabung, das Glück in jeder seiner Erscheinungsformen zu erkennen.
Manchmal tarnt es sich und macht erst durch seinen Abgang auf seine Anwesenheit aufmerksam.
Aber ich lenke ab. Ich weiß jedes kleines Zipfelchen Glück zu schätzen, was mich allerdings nicht davor bewahrt, die Last des Lebens besonders intensiv zu spüren. Manchmal sehe ich nach rechts und links und sehe Menschen, die unbeschwerter durchs Leben gehen. Was ist das nur bei mir, das alles so beschwerlich macht?
Die Frage stellt sich nur noch rein rhetorisch, ich bin sehr im Reinen mit meiner Persönlichkeit. Ich nehme mein Lebenspäckchen so wie ich meinen Alltagsrucksack packe: Da sind immer ein paar Sachen mehr drin, als unbedingt notwendig sind. Sachen zum Trösten, Dinge zum Aushelfen, was zum Lesen, zum Essen, zum Verarzten und manchmal auch Sachen, die ich einfach mag.
Ein bisschen mehr für den Alltag, für die Reise gilt: nie mehr als du tragen kannst.
Der größte Unterschied zwischen der Senorin, die ich seit ein paar Wochen bin, und der jugendlichen Person, die ich einst war, besteht in der Anziehungskraft, die Menschen auf sie ausübten / ausüben.
Oh, wie mich die bestimmte Menschen – oder fiktionale Figuren – anzogen! Wie viele Träume sie auslösten! Wie viel Liebe!
Jetzt kümmere ich mich mehr um meine Höhle. Um den perfekten Fensterblick. Die Schäfchenwolken tanzen für mich. Menschen in meinem Leben sind Kostbarkeiten. Manchmal zerbrechlich und fragile. Auf keinen Fall austauschbar.
Langsam, aber stetig überschritt ich die Grenze, die die junge Person von dem heutigen Ich abschneidet.
Es ist nicht ganz klar, wann ich das Fliegen verlernte.