Passend zur Lage der Welt trage ich Tränen in den Augen. Will aber nicht verheimlichen, dass ihre medizinische Ursache wohl auf der Immunreaktion der Pollenattacke beruht. Der Frühling brummt und tobt. Ich traue mich heute nicht, ihn in Bildern einzufangen.
Lese intensiv und wie besessen die Tage- und Notizbücher von Patricia Highsmith, die ich eigentlich gar nicht lesen wollte.
Sie hat so viel schlimme Sachen von sich gegeben, dass ich ihr keinen Raum in meinem Leseherzen mehr zugestehen wollte.
Kernkompetenz: Müdigkeit in die Welt hineinseufzen.
Vermisse Wolle zum Stricken oder Häkeln und sehe mich in der Hafenstadt danach um. Es gibt Stoffläden und buntes Allerlei. Weit und breit keine Wolle. Es ist ein Fehler ohne Wolle auf Reisen zu gehen. Und wenn du zwanzig Stunden Verspätung hast, dann wird dir klar, dass du Wolle als Kriseninterventionswerkzeug dringends brauchst. Falls ich meinen Flucht-Rucksack doch mal packen sollte, wird Wolle drin sein. Ich kann auch im Dunkeln stricken. In der Nacht.
Aber eigentlich habe ich mich gegen das Flüchten entschieden. Es hätte nicht viel Sinn. Ich bin nicht mehr fit genug. Im Falle eines Falles bliebe mir nur der Rückzug, denn zum Kämpfen bin ich ebenfalls nicht geeignet. Nicht erst seit Altersgründen offensichtlich sind.
Ich hab doch noch Wolle gefunden. In einem hippen, fancy Laden in dem es Wolle ab 1,80 Euro für 10g (!) gibt. Wunderbare Wolle. In einer Ecke lag ein kleiner Rest den ich mir zu Herzen nahm und zur Kasse trug.
Mittlerweile bin ich vollständig in meiner Parallelwelt eingerichtet und kommuniziere über verschiedene Korridore in unterschiedliche Universen. Das Universum Pflegeheim ist derzeit nur über Audio zu erreichen. Hoffnung auf Änderung besteht.
Kurz entschlossen habe ich noch die Parallelwelt Urlaub hinzugefügt. Bestraft wurden wir mit einer Oberleitungsstörung und einer zwanzigstündigen Verspätung. Danach wieder perfekt in unserer Blase angekommen.
Ich lese die Aussagen zum Infektionsschutzgesetz und bringe keine Energie mehr auf, um mich darüber zu entrüsten. Nicht mal dreist kann ich sie innerlich nennen. Es ist wie es ist, die Vernünftigen haben sich nicht durchgesetzt. So war es doch immer. Wir wissen immer mehr und entscheiden immer schlechter. Es scheint einen Sog zu geben, der uns reinzieht ins Verderben. Ich bin eindeutig zu alt, um mich dem entgegenzustellen.
Ich lebe in Parallelwelten, die meine Persönlichkeit spalten. Augen auf, das Bürodrama ruft. Augen zu, es ist Krieg, es ist Krieg – ruft mir meine innere Stimme zu. Augen funkeln und ich höre ein Wispern: Masken ade. Die Spritpreise steigen, das interessiert mich nicht. Aber die leeren Gasspeicher, die ärgern sehr.
Die Welt ist aus den Fugen, die Erde bebt. Augen auf, zurück an den Schreibtisch. Für einen Moment. Für eine Weile. Aber die Wunde heilt einfach nicht. Es ist Krieg und kein Ende in Sicht.
Die Nebenschauplätze nehmen groteske Züge an. Sehnsucht nach Langeweile.
Wie wir wohl in einem / zwei / fünf Jahr auf diese zurückliegenden Tage blicken werden?
Panzerkonvois und Raketeneinschläge lösen in den Medien die langweiligen Zahlen, Statistiken und Modellrechnungen der Pandemie ab. Die Bilder werden schneller, krasser und spektakulärer, die Töne lauter, schriller und mitreißender.
Endlich gibt wieder echtes, richtiges Gut und Böse. (Klare Botschaften und harte Kanten.)
Männer, Frauen und Kinder werden wieder in altbekannte Kategorien eingeteilt.
Es gibt Krieg, Krieg, Krieg und all das Leid, das wieder neues Leid gebiert. In die nächsten Generationen hinein.
Da ist die Gewalt, die ihr Gift in Körper, Herzen und Seelen spritzt.
Und die Furcht, die die Seelen quält. Angst und Schrecken.
Corona-Ausbruch im Pflegeheim. Worst-Case auf den letzten Metern. Einsame, hilflose Menschen alleine gelassen. Die Medienkarawane zieht weiter. Pandemie ist langweilig geworden, steigende Infektions- und Todeszahlen interessieren nicht mehr, sie sind aus den Nachrichten verschwunden. Dafür gibt es jetzt Kriegsberichtserstattung. Denkbar gruslig, auf so vielen Ebenen.
Die Alltagsaufgabe Gelassenheit gelingt mir dennoch. Der Krieg schottet mich emotional mehr ab als die Pandemie.
Anders geht es nicht. Ich will leben. Ich habe noch drei, vier Sachen vor.
Alle Lebensenergie verwende ich dazu, nicht zu verzweifeln. Nicht einzubrechen auf dem Boden brüchiger Fakten. Es fällt mir nicht leicht, mich von den Nachrichtentickern fernzuhalten. Auch viele Hintergrundberichte üben einen Sog aus. Ich würde gerne mehr über den Krieg in der Ukraine wissen und die damit in Verbindung stehenden Hintergründe verstehen und weiß doch, dass das jetzt für mich nicht der richtige Weg ist. Meine wichtigste Aufgabe ist es, mich zu stabilisieren.
Einmal am Tag Nachrichten aus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen und mehrmals am Tag einen vorsichtigen Blick in meine Twitter-Timeline. Twitter ist immer ein bisschen gefährlich, weil dort so viele Informationen zusammenkommen. Anders als die gängigen Nachrichtenseiten decken sie für mich Tiefen und Weiten der aktuellen Themen ab, die ich nirgends so geballt finde und sonst wirklich gerne ergründe. Während der Pandemie war das oft eine ganz besondere Wohltat. Jetzt nehme ich mich vorsichtshalber ein Stück zurück.
Selbstschutz ist erlaubt.
Ich muss es mir immer wieder sagen. Selbstschutz ist erlaubt und dringend angezeigt.