Journal18072022

Leiser werden im Leid.

Älter werden und der Boden unter den Füssen schwankt. Oder vibriert. Die Angst, die in der Kehle steckt.

Ich lass das mit den Wortspielen lieber, das wird zu düster.

Draußen nimmt die Sonne Anlauf für einen heißen Tag. Die Hitzewelle rollt.

Bildbeschreibung: Balkonblick der hinter den Bäumen aufgehenden Sonne

Journal06072022

Das Bedürfnis über Tage und Wochen zu schweigen. Schweigend diese Zeit begleiten. Die Pandemie, der Krieg, die Inflation, die schwindende Welt des Wohlstands.

Das Bedürfnis, den Kopf aus Fassungslosigkeit zu schütteln, schon lange verloren. Zu viel Energieverlust. Zu abgestumpft.

Das Bedürfnis, die Welt aus den Angeln zu heben und sie neu zu justieren. Jetzt noch einmal neu beginnen. Ein sinnloser Traum.

Zum Dokumentieren gibt es genau einen Punkt: Berichte, die von den Missständen in der Pflege oder der Medizin handeln, sind nur die Tropfen, die überlaufen. In Wirklichkeit rollt längst eine Flutwelle über die Gesellschaft. In der Realität und im Einzelfall ist alles tausenmal schlimmer.

Schlimmer, härter, würdelos schon lange.

Das System ist nicht überlastet. Es brennt.

Journal25062022

Doch. Ich fand die Konzentration zu den Lesungen in Klagenfurt vor dem Fernseher. Allerdings nicht die Konzentration, um sie hier in der Sammelmappe zu dokumentieren. Es gab einige wenige Texte, die ich sofort in mein Herz schloss, einige die Achselzucken bei mir hervorrufen und auch welche, die ich unfassbar flach fand.

Bei der Jurydiskussion schalte ich innerlich oft ab. Früher konnte ich mich da voll emotional reinhängen, heute sehe ich eher die durchsichtigen Verstrickungen und wende mich ab. Nicht mein Milieu, nicht meine Angelegenheit. Sie sind auf so viele unterschiedliche Weisen blind, aber trotzdem feurig ehrgeizig. Ich freue mich wenn professionelle Aussagen aufblitzen, nur selten erhellt die Jury mir den Hintergrund. Es ist trotzdem toll, dass es dieses Format gibt und irgendwann fahre ich auch wieder hin und sehe mir das aus der Nähe an.

(und über all diesen Tagen und Wochen schwebt die Sorge, die Trauer, die Fassungslosigkeit, das Leben wiegt schwer)

Journal22062022

Morgen beginnen die Lesungen zum Bachmannpreis in Klagenfurt. Ohne mich. Hab monatelang die Reservierung in der Bahnhofskneipe aufrecht erhalten. Das letzte Zimmer, das noch buchbar war. Aber dann stellte es sich heraus, dass der Zug nicht mehr fuhr. Diese wunderbare durchgehende Verbindung. Mehr als acht Stunden, aber machbar. Jetzt ist er weg dieser Zug und damit für mich auch die Möglichkeit, die vier Tage zuzüglich den beiden Anreise- bzw. Abreisetagen zwischen meine laufenden Termine zu quetschen.

Aus die Maus.

Abharken und weitergehen. Bin mir nicht mal sicher, ob ich die Konzentration aufbringe, mir die kompletten Lesungen und Diskussionen am Fernseher anzusehen. Ist halt doch ein komplett anderes Gefühl. Überhaupt ist Konzentration keiner meiner Schwerpunkte in diesen Wochen. Meine Gedanken und Gefühle zerstreuen sich.

Schweben dahin. Lösen sich von mir.

Journal13062022

Lange, friedliche Tage. (Wenn eine die Nachrichten ausblendet. Und das Unvermeidliche akzeptiert.)

Große Lust auf Altersleichtigkeit, aber sie hält sich noch sehr bedeckt. Werde sie erst hervorlocken müssen, bisher sind meine Kompetenzen in dieser Hinsicht noch bescheiden.

Intensives Studieren des Rentenverlauf begleitet von einem tiefen Seufzer.

Erkenntnis des Tages: In meinem Leben fehlt die Kunst. Umfassend.

Journal08062022

Jetzt bin ich wieder hier, aber meine Seele ist nicht schnell genug hinterher gereist. Das führt zu bodenloser Orientierungslosigkeit.

Morgen soll ich wieder arbeiten und weiß nicht so recht wie das geht.

Jede Bewegung fällt mir schwer und jeder Gedanke geht nur quälend langsam durch meinen Kopf.

Ich bin zuhause und erwarte mit Sehnsucht, dass Körper, Geist und Seele bald wieder zueinander finden.

Alles Liebe wünsche ich.

Journal07062022

Physischer Gesamtzustand: Fühle mich wie aus dem Weltall zurück gekehrt und fremdle noch.

Alle Glieder meines Körpers zeigen mir gerade gemeinsam schmerzhaft ihre Präsenz an und das Gemüt ist noch kräftig durchgeschüttelt. Versuche mich jetzt vorsichtig wieder in mein Leben reinzutasten.

Spektakulär

Schattenplatz in einem kleinen Park in Havanna.

Kurze Pause in Havanna.

Mein Fotos aus La Habana sind rekordverdächtig langweilig. Unspektakulär. Nicht im mindestens so, wie die Atmosphäre, die diese Stadt ein- und ausatmet.
Wie überall in Kuba gibt es auch hier nur wenig Tourist*innen. Es ist ein bisschen gespenstig. Touristenorte ohne Touristen. Ein Thema für sich.
Ansonsten sind die Menschen mit dem Beschaffen von Essen und Trinken beschäftigt. Die Pandemie wirbelt hier alles kräftig durcheinander.

Ich wünsche mir für die Menschen hier, unspektakuläre und ruhige Zeiten, die mindestens so langweilig wie meine Fotos von hier sind. Denn nicht selten sind dies die glücklichen Zeiten.

Am anderen Ende der Welt

Es ist schön hier. Keine Frage. Wunderschön. Aber traurig ist es auch. Dieser entsetzliche Mangel an dem, was ein Mensch so braucht. Zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Die Pandemie hat Kuba noch mal ziemlich zugesetzt. Es fehlt an so vielen Dingen.

Ach.

Claudia im Patio in Matanzas
Platz in Varadero mit blühenden Bäumen unter einem blauen Himmel

Journal21052022

Sie schickt mir ein Foto und schreibt: bald ist es ein Jahr her.

Erst in diesem Moment wird mir klar, wie sehr sich unser Leben seither verändert hat. Für einen Moment, denn noch ist nicht die Zeit, das Geschehende aufzuarbeiten. Noch machen wir uns gegenseitig auf unser Seufzen aufmerksam. „Ich möchte nicht klagen“ ist in diesem speziellen Fall der familieninterne Code, der Triggeralarm dafür, dass die Klage, die Sorge, die Trauer bis zum Himmel reicht.

Der, der am schwersten kämpft, seufzt täglich sein Mantra „Ich habe keinen Grund zum Klagen.“

Mein Gemüt ist längst bereit zu klagen.

Im nächsten Leben werde ich mit Inbrunst zum Klageweib. Ich verstehe längst, warum diese Frauen so wichtig waren.