Am anderen Ende der Welt

Es ist schön hier. Keine Frage. Wunderschön. Aber traurig ist es auch. Dieser entsetzliche Mangel an dem, was ein Mensch so braucht. Zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Die Pandemie hat Kuba noch mal ziemlich zugesetzt. Es fehlt an so vielen Dingen.

Ach.

Claudia im Patio in Matanzas
Platz in Varadero mit blühenden Bäumen unter einem blauen Himmel

Journal21052022

Sie schickt mir ein Foto und schreibt: bald ist es ein Jahr her.

Erst in diesem Moment wird mir klar, wie sehr sich unser Leben seither verändert hat. Für einen Moment, denn noch ist nicht die Zeit, das Geschehende aufzuarbeiten. Noch machen wir uns gegenseitig auf unser Seufzen aufmerksam. „Ich möchte nicht klagen“ ist in diesem speziellen Fall der familieninterne Code, der Triggeralarm dafür, dass die Klage, die Sorge, die Trauer bis zum Himmel reicht.

Der, der am schwersten kämpft, seufzt täglich sein Mantra „Ich habe keinen Grund zum Klagen.“

Mein Gemüt ist längst bereit zu klagen.

Im nächsten Leben werde ich mit Inbrunst zum Klageweib. Ich verstehe längst, warum diese Frauen so wichtig waren.

Journal18052022

Dieser Tag schweigt mich an. Von Anfang an. Er schweigt in brütender Hitze.

Nochmal davon gekommen. Geld heilt manche Wunde. Ich weiß das sehr zu schätzen.

Sorgen mit Geldscheinen auswedeln. Manchmal geht das.

Ansonsten kann ich mich kaum konzentrieren. Ich lausche mehrmals am Tag dem, der seine Frau schwinden sieht. Nach jahrelanger Krankheit schimmert die Trauer durch. Die Panik. Nichts wird wieder gut. Wir wissen es, aber wir denken es nicht. Tabu.

Journal11052022

Heute wieder so ein anstrengender Tag im Belastungstunnel-Modus.

Dann gehen die Türen der Straßenbahn auf, der Wind wirft einen Ballen Blütenblätter in die hintere Tür und durch die Straßenbahn weht plötzlich ein Blütenblätter-Zauber.

Journal10052022

Ich packe meinen Koffer und lege eine Portion Sorge hinein.

Ich falte meine Sorgen ordentlich zusammen, damit möglichst viele von ihnen in mein Lebensgepäck passen.

Ich schichte die Sorgen und ordne sie nach der Farbe der Hoffnung.

Ich bin müde und meine Augen öffnen sich kaum.

Ich nehme mein Herz in die Hand und verschenke es.

Zeit zum Leben.

Journal07052022

Alle meine Sorgen trage ich in meinem Rucksack nach Hause. Nicht symbolisch, sondern im wahrsten Sinne des Wortes. Ein ganzes Bündel Papiere zusammengestellt aus der kompletten Lebensbiografie von zwei Menschen sortiert und geordnet, überprüft und verworfen und wieder neu zusammengestellt.

Pflege ist teuer. Das Geld schmilzt dahin und bald wird nichts mehr übrig sein.

Wir seufzen zusammen. Ändern können wir nichts. Es bricht uns das Herz.

So viel ist zu bedenken.

Ich fahre dann wieder.

Nehme meine Sorgen in ihrer bürokratischen Erscheinungsform mit und werde gestoppt von den „Spielenden Kindern im Gleis“. 95 min Verspätung, aber null überfahrene Kinder. Das ist wohl die gute Nachricht des Tages.

Journal04052022

Jetzt ist es also offiziell: der Maskenschutz in der Dienststelle ist weg.

Gefallen, sagen sie. Die Maskenpflicht sei gefallen. Für mich fühlt es sich aber so an, als sei mein Schutz weg gefallen.

T ja. Nicht jammern. Weiter gehen. Immer weiter gehen.

Ich versuche wenig nachzudenken. Einfach die Dinge regeln, die unbedingt geregelt werden müssen. Das sind eine ganze Menge.

Und dann noch die Vorfreude. Große, verhaltene, innige Vorfreude. Auf ein wunderbares Land. Bei den Einreisebestimmungen steht als Warnung: Es kann zu Engpässen bei Dingen des täglichen Bedarfs und Medikamenten kommen.

Oh, ja. So ist das wohl.

Lebenslinie

mehr strahlend als stochernd
mehr stichelnd als glänzend
fast zärtlich

ein Strich und keine Linie
gemalt statt gezeichnet
mit Kreide

in den Sand

Vom Wünschen und Träumen

Eine Fee traf ich im Traum.

hab ihr alle meine Wünsche

an den Kopf geworfen

Sie lachte laut.

Sagte: Lass das mal.

Im nächsten Traum wird alles anders.

Tödlicher Irrtum

dem Bösen die
Schulter zuwenden
im fatalen Unwissen
dass die kalte Schulter
der beste Platz zum
Umklammern ist