Jetzt lebe ich eine weitere Woche zwischen den Welten. Zwischen den Weichen.
Am Tag nach der Operation ging es mir am Besten. Wahrscheinlich waren die Narkosmedikamente wirklich so beflügelnd wie von der Narkosepflegerin angepriesen. Danach ließen meine Kräfte nach. Ich war heilfroh, dass ich die ganze Bürokratie sofort hinter mich gebracht hatte, denn ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Ein seltsames Gefühl. Alle mentale Energie ausgelaufen. Wer bin ich ohne mentale Kraft?
Ich beobachte meine Wunden. Nicht mit Misstrauen, aber mit Distanz.
Nur nicht zu nahe kommen, nicht aus Versehen in der Weiche verheddern.
Nachts schlafe ich schlecht. Stundenlang liege ich wach, bis ich in eine schwarze Schlafgrube falle. Ich träume nicht.
Erster Teil des Wochenplans hinter mich gebracht. Die Voruntersuchungen, samt Bürokratie und Gedöns erledigt. Am Besten komme ich in diesen Situationen klar, indem ich auf Autopilot umstelle. Rumstehen, rumsitzen, warten und die Zeit vergehen lassen. Warten, warten, warten. Warten im Freien, Warten im Foyer mit Nummer, Warten im Wartezimmer, Warten auf dem Flur, Warten vor dem Aufzug, Warten vor dem Lagerraum. Manche sitzen zwischendurch auf dem Boden, so weit gehe ich nicht.
Zur Begrüßung reicht mir jemand heute morgen freudestrahlend den Umschlag mit den Unterlagen, die ich zwei Wochen lang vergeblich einsehen wollte. Ich grüße dankend zurück. Alle Wege führen irgendwo hin. Manchmal auch zu mir.
Wünscht mir Glück. Ich glaube ganz fest an die Macht der positiven Gedanken.
Dienstag: Isolation und am Nachmittag Bekanntgabe der Uhrzeit des OP-Termin
Mittwoch: OP-Termin mit Gewebeentnahme
Diagnose dauert dann mindestens eine Woche. Wie lange die Wunde zum Heilen braucht scheint nebensächlich zu sein, denn dazu gibt es keine Informationen.
Fühle mich gleichzeitig transparent, wehleidig, verloren, nervös, aufgeregt, empfindlich und ein kleines bisschen pragmatisch.
Ich traue mich nicht mehr, hier in der Sammelmappe einen Mucks abzugeben.
Dabei wäre es so wichtig und notwendig für mich, mich an meine Angst heran tasten zu dürfen, ohne gleich wieder andere beschwichtigen zu müssen.
(Ich zähle die Tage, die Stunden. Bin nach einer vierzehntägigen Bürokratie-Parodie-Episode sogar mit einer Kopie meines Aufklärungsprotokolls versehen. Wünsche mir dringend eine Glaskugel, für die Nachsorgeoptionen. )
Countdown. Rückwärts zählen. Final Countdown wäre jetzt ein bisschen zu zynisch. Ich will ja die Hoffnung nicht verlieren und Zeit für die Dramaqueen bleibt immer noch.
Also: Konzentration, bitte.
Fokussieren sagen sie neuerdings dazu. Herausfinden, was wichtig ist für mich in dieser Situation.
Bisher ging es meistens um Gespräche. Weitergeben, was ich weiß und was ansteht. Nicht viel Informationen und doch ein Wumms. Erstmal.
Fünf Venen weiter und schon war der blutige Willen gebrochen.
Ich entschuldige mich für meine Venen. Sie passen absolut nicht zu meiner Persönlichkeit. Ihnen ist es egal, dass mein Ziel ist, eine demütige und fügsame Patientin zu sein. Wenn ich schon rein muss in die Maschinerie, dann bitte so unsichtbar wie nur möglich. Ein Hauch von einer Patientin.
Aber da habe ich die Rechnung ohne meine Venen gemacht. Sie spielen Verstecken und Maskerade. Manchmal zeigen sie sich und lachen dann drei Tropfen Blut, ehe sie kichern wieder versiegen.
In der Arbeit für Transparenz gesorgt. Soweit dieser Zustand – Sachstand – es möglich macht. Ich mag die Wispergespräche nicht und auch nicht das Geraune.
Hier stehe ich. Zusammen mit meiner Angst. Gehe den Weg, den schon so viele gegangen sind.
„Ihr Konto ist jetzt leer. Sie haben alle Bücher zurückgeben.“
Keine Bücher mehr aus der Stadtbücherei. Vorgestern hatte ich das eine noch verlängert, aber dann wollte ich mich nicht mehr um die Fristen kümmern. Zu viele andere Termine, die sich jetzt in meinen Alltag schalten.
Was ich in dieser Situation auf keinen Fall brauche, ist Ablenkung und den Anschein von Normalität. So ticke ich nicht. Ich sorge und sammle mich. Ich drehe mich im Kreis und bin mir genauer denn je über den Mittelpunkt bewusst.