So sagten wir als Kinder. Meine ganze Hoffnung steckte in diesem Termin, der einfach nur verpuffte. Abharken. Von dieser Seite ist also wie befürchtet keine Hilfe zu erwarten. Einen Augenblick lang war ich platt und am Boden zerstört, aber dann wuchs in mir wieder etwas an. Es war als würde ich all die Verzweiflung der letzten Tage zusammenkehren und mich besinnen, dass ich es auch so schaffen kann. Ich habe mich, ich habe ein paar Anlaufstellen, die sich zwar fachlich so speziell nicht auskennen, die mir aber wohlgesonnen sind. Das ist eine gute Basis. Schlimmer wäre es gewesen, wenn meine Odyssee mit so einem Termin begonnen hätte, wie er heute gelaufen ist.
Ich packe meinen Rucksack und lege eine Portion Hoffnung hinein. Ein Paket Zuversicht und Zuvertrauen.
Das wird schon. Vielleicht anders als geplant, aber das wird schon.
Die Ärztin zuckt bei der Kontrolluntersuchung zusammen. Kein beruhigendes Zeichen. Helfen kann sie nicht. Warte immer noch auf den Facharzttermin während die Krankheit in meinem Mund eskaliert.
Bitte an die Mitlesenden nicht zu viel Ungutes hineinzulesen.
Es gibt Schlimmeres und ich bin mit dieser Krankheit noch nicht vertraut und suche noch. Muss lernen mit der Krankheit umzugehen.
Außerdem lebe ich mit der Philosophie: Jammern hilft.
Dank dem Dringlichkeitscode hat das Warten ein überschaubares Ende. Ein bisschen Glück brauche ich trotzdem. Hoffe dass ich kompetente Hilfe finde.
Mir fällt es schwer, mich zu konzentrieren. Die Gedanken jagen in die Zukunft, durch die Vergangenheit, schlagen Purzelbaum und schießen wie eine Rakete in den fernen Horizont. Sie führen ein Eigenleben ähnlich wie es diese Krankheit mit mir macht. Ich bin weit davon entfernt, ihr ein stabiles Grundgerüst entgegenzusetzen.
Weiter dazugelernt: Wie sehr es nervt, wenn Fragen zur Krankheit gestellt werden, die ich noch nicht beantworten kann. Noch mehr nervt es, wenn gutgemeinte Ratschläge mir Handlungsaufforderungen mitgeben. Es fällt auf, dass Gesprächspartner*innen keinen Stillstand beim Sachstand dulden. Da wird wild spekuliert, was jetzt zu tun ist und falls das nicht, dann das. Kein Fortschritt? Das kann nicht sein.
Vielleicht sprechen deshalb viele Menschen gar nicht über ihre Krankheiten oder Diagnosen. Das Gegenüber, das gerade sachlich einen Informationsstand erhalten hat, fühlt sich dazu berufen „Diagnose und Behandlungsstrategien“ zu verkünden und (ganz wichtig) einzufordern.
Einerseits ist das witzig, weil es abstrus ist, andererseits trifft es auf eine verunsicherte Seele, die sich gerade sehr schützen muss, um zu heilen.
Sich in andere Menschen hineinzuversetzen ist keine Kernkompetenz in unserer Gesellschaft. Das erklärt auch viele andere Probleme, die wir im Moment haben.
Note to myself: Beim Verlassen der Alltagsstruktur Vorsorge für die medizinischen Auszeiten treffen. Zeitliche Struktur planen, vorbereiten und öffentlich kundtun. Sonst wird das nichts mit der verantwortungsbewussten Selbstbehandlung.
Es sieht so aus, als müsste ich mir diese Selbstverständlichkeiten eine Weile ins Ohr flüstern, da ich immer noch nicht verinnerlicht habe, dass ich krank bin. Die Krankheit nimmt sich kein Wochenende frei.
Aber das werde ich lernen. Ganz bestimmt, muss nur noch ein bisschen Geduld mit mir haben.
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Weitere Vorkommnisse: Hab lange ins Feuer geschaut. Hab dort Vergangenes und Zukünftiges gesehen.
Abwechselnd verbringe ich meine „Freizeit“ im Labyrinth der medizinischen Versorgung chronisch kranker Menschen oder im Bürokratie-Dschungel Pflege. Beides eng miteinander verzahnt und mit Aspekten ausgestattet, die jede Satire in den Schatten stellt.
Nun ja, wenn ich eins kann, dann Beharrlichkeit. Eine meine größten Tugenden.
Heute als Lichtblick, dann zum ersten Mal ein kompetentes und aufgeschlossenes Gespräch mit einer Apothekerin über die Möglichkeiten einer Behandlung meiner Krankheit. Da der Termin mit der Hautärztin noch in weiter Ferne liegt, mein Leidensdruck immer größer wird und die anderen Ärzte eher ratlos sind, war ich überrascht, dass ausgerechnet in der Apotheke so ein Gespräch möglich war. Praktisch hilft mir das zwar im Moment nicht weiter, aber es sind Informationen, die ich ganz wichtig für mich sind.
Bisher hielt ich Apotheken eher für Geschäfte in denen eine überteuerte Gesichtschreme kauft und die leider ein Monopol auf Medikamentenverkauf besitzen, das mit mit Allerweltsratschlägen aufpeppen und dann für ein Qualitätsmerkmal halten.
Regen. Den ganzen Sonntag über Regen. Lange haben wir darauf gewartet. Die Bäume und das Gras werden erstmal grün, bevor sie sich wirklich in den Herbstmodus begeben. Vor ein paar Wochen sah es wegen der endlosen Trockenheit so aus, als wollte sich die Natur direkt in den Abschied stürzen. Aber nun lässt sie sich Zeit.
Hier gab es rote Linsen mit Süßkartoffeln zum Mittagessen. Hab wirklich lange gebraucht, bis ich auf den Gedanken kam, dass das eine gute Kombination sein könnte. Sie ergänzen sich prächtig.
In den Zwischenzeit hege und pflege ich all die vermaledeiten Stellen an meinem Körper, die mir zeigen, dass es langsam genug ist. Zeitenwende im Kleinen. In meiner kleinen privaten Welt.
(Was die große Welt anbelangt, lese ich kopfschüttelnd, dass Katar jetzt der größte Aktionär bei RWE wird. Sie machen also genau da weiter, wo sie aufgehört haben. Du meine Güte.)
Dort gibt es ein Blog-Projekt, das den 27. September aufschreibt. Es gibt dazu mehrere Vorgängerprojekte. Christa Wolf hat ihren Alltag am 27. September auch aufgeschrieben, ich las das sehr gerne. In diesen Momenten bedauere ich immer ein bisschen, dass ich in der Sammelmappe so wenig von meinem Alltag berichten kann. Das war zu Beginn des Bloggens eine Richtungsentscheidung, entweder anonym oder etwas geschützt unter eigenem Namen. Ich entschied mich für die zweite Variante und führe ein Papiertagebuch für die Dinge, die mir nahe gehen und mich intensiv beschäftigen. Alltag steht auch drin, aber sehr oberflächlich. Bzw. Durch Zahlen dokumentiert.
Liebes Tagebuch, diesen 27. September verbringe ich in Marseille und M sagt, das wird unsere letzte gemeinsame Reise nach Marseille sein. Wahrscheinlich ist das so. Wir werden unsere gemeinsamen Kreise kleiner ziehen. Die Realität gibt da ganz klar ihre Grenzen vor. Ich spiele June’s Journey und bin bei der Szene 1000 angelangt. Meine größte Sorgen sind der Krieg und die Faschisten. Das Klima auch, aber das geht in der allgemeinen Dummheit der Menschheit unter.
Könnt ihr euch noch an den Begriff Schwarm-Intelligenz erinnern? Die letzten drei Jahre haben leider gezeigt, dass es irgendein Mechanismus geben muss, der Scharm-Dummheit sein könnte. Destruktiv und selbstzerstörerisch. Ansteckend und direkt aus der Hölle gesteuert.
Während die Welt krachend aus den Fugen gerät, werde ich Tag um Tag verletzlicher.
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Beim Lesen eines Twitter-Thread gedacht, dass eine ein Coaching durch das Gesundheitssystem brauchen könnte, sobald sie chronisch krank ist oder an einer speziellen Krankheit leidet. Das System hat mehr zu bieten, als an der Oberfläche zu erkennen ist. Dann sofort gedacht: gilt auch für die Rentenversicherung. Auch da wäre ein Coaching quer durch das System nicht schlecht.
Unsereins hat für diese Sachen ja wenigstens noch die Timeline. Aber es ging sicher auch individueller und effektiver.
Du meine Güte, wenn ich daran denke, was bei uns immer so unter „Freizeit“ läuft. Mir scheint, da ist ein gewaltiger Fehler in der Logik.
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Abend lasse ich mir die Kriegstagebücher von Astrid Lindgren ins Ohr flüstern. „Die Menschheit hat den Verstand verloren“. Zum wiederholten Mal lese und höre ich das Buch. Erschreckend, wie es über die Jahre immer realistischer in meine Welt passt. Geschichte wiederholt sich. Immer und immer wieder.