Es sind Wellen. Das habe ich nun verstanden und bin nicht mehr jedesmal verzweifelt, wenn mir heute das nicht gelingt, was gestern noch möglich war.
Mein Radius ist immer noch klein, aber ich erkämpfe mir Sicherheit zurück. Vertrauen in meine Gehfähigkeit. Noch eine Woche im Dienst liegt vor mir und dann kann ich mir die nächsten Kreise vornehmen. U-Bahn-Stationen zum Beispiel. Der Bahnhof wird noch länger warten müssen. Wenn ich den Hauptbahnhof wieder schaffe, dann bin ich wohl über den Berg.
So stelle ich mir das vor. Bei der Heilung spielt die Vorstellung eine größere Rolle als mir je bewusst war. Es war gräßlich, als ich jedes Wellental als Rückschlag ansah. Heute sehe ich den Heilungsprozess als sich abflachende Welle an. Das nimmt mir die Verzweiflungsmomente.
flüchtige Zeichen, die das Dunkel durchschneiden
wie Schatten einer zarten Pflanze,
die einmal Vertrauen war
Der Herbst zeigt sich von seiner fotogenen Seite. Er berührt mein Gemüt. Ich wünsche mir so sehr, dass ich die Kraniche noch sehe, aber es sieht so aus, als wären die meisten schon weg.
Ich bin immer wieder erstaunt, wie lange mich eine Kranich Sichtung glücklich machen kann. Dieses Jahr hätte ich dieses Gefühl gut brauchen können. Aber wer weiß, vielleicht sehe ich morgen noch welche.
Es geht jeden Tag etwas besser. Aber nun kommt der Teil, in dem ich nicht so gut bin: Jetzt nicht das Pensum erhöhen! Bloß nicht noch mehr wollen. Erst stabilisieren, dann kann es weitergehen.
Ich schreibe das hier auf, weil ich mir selbst nicht traue und das verbindlicher für mich haben möchte. Wenn ich etwas aus diesen vergangenen Wochen gelernt habe, dann dass es keinen linearen Heilungsprozess gibt. Das ist ungewohnt für mich.
Stabilisieren. Der Hauptbahnhof kann warten. Dort hat praktisch alles angefangen und an den kehre ich als letztes wieder zurück.
Von meiner Wohnung bis zum Büro finde ich eine Route, die nicht über den Bahnhof führt, mit dem minimalsten Aufwand an Überqueren von Kreuzungen. Zwei Straßenbahnen; ich wähle den Umstieg so, dass ich nicht über den Straßenverkehr aussteigen oder einsteigen muss. Das Risiko so klein wie möglich halten.
Ich schaffe es wankend und schwankend. Mit klopfendem Herzen. Das Gemüt in großer Aufregung.
In der Arbeit bewältige ich die stillen, difizilen Sachen konzentriert in Rekordzeit. Angelegenheiten im Personalbereich führen zu einer Übererregheit, die ich kaum aushalte. Zum ersten Mal fühle ich sozusagen bei laufender Aktivität, welche Lasten ich da die ganzen Jahre so selbstverständlich auf meinen Schultern trug.
Mir geht es mit dem Schreiben hier ähnlich, wie mit dem Draußen-Laufen: Ich zittere davor und darf es nicht abreißen lassen. Will es nicht abreißen lassen.
Letzte Woche dachte ich noch, mein Zustand wäre eine kurzfristige Angelegenheit. Das war zu leicht gedacht. Auf mir liegt gefühlt die Last der ganzen Welt und alle Trauer und Sorgen in ihr. Den Gehstock habe ich erst einmal beiseite gelegt, weil ich mit ihm wohl das Zepter meiner Hilflosigkeit trug. Manchmal gibt es jetzt gute Stunden, da gehe ich ein Stück und sehe den Himmel, die Bäume und die Schönheit und das Gehen ist einfach und mein Herz hüpft und denkt: Es ist vorbei.
In diesen Momenten fühlt es sich an, als wäre es nie anders gewesen und könnte auch nie wieder anders sein: Einfach in die Welt hinein laufen.
Aber dann kommt alle Schwere wieder zurück und ich versinke beim Gehen und tappse Schritt für Schritt einem unsicheren Halt entgegen. Tausend Gewichte hängen an mir und mein Blick wird starr. Weil doch der Blick das einzige ist, was mich noch aufrecht hält.
Ganz langsam sammle ich mich wieder. Setze einzelne Teile meines Ichs wieder zusammen. Mühsam und bisher noch sehr unvollständig, aber ich fühle, ich bin auf dem richtigen Weg.
Heftig erschreckt haben mich die Erinnerungslücken vom gestrigen Tag. Noch ein Trauersymptom, das sich eingeschlichen hat. Ich zittere innerlich und denke nur im Schneckentempo.
Den Gehstock hab ich aus der Paketstation befreit, er hilft mir sehr bei meiner Gehunsicherheit.
Morgen wird es besser, wünsche ich mir. Morgen wird es leichter sein.
Wusstest ihr, dass Trauer bewirken kann, dass ihr nicht mehr gehen könnt?
Ich wusste das nicht. Bis ich nicht mehr gehen konnte.
Meine Mutter ist gestorben. Eigentlich schon vor langer Zeit. Die Demenz hatte sie extrem lange auf einer Bühne gehalten, die nicht mehr ihre war. Am Wochenende ist sie nach langer, schwerer Krankheit verstorben. Dass ich ihre Tochter war, hatte sie schon lange vergessen. Das war schwer und leicht zugleich. Heute ist nicht der Tag, das Licht auf all das zu richten, was sie getan hat.
Es war schlimm, es ist richtig, richtig schlimm. Und jetzt kann ich nicht mehr gehen. Die Ärztin sagt, es sei die Trauer. Ich kann draußen nicht mehr gehen. Der Boden versinkt unter mir.
Ich weine. Ich verstehe nicht, was da passiert. Ich kann mich nicht mitteilen, denn könnte ich es, da wäre es doch wohl nicht möglich, dass eine mich vergessen könnte.
Ich weiß nicht, was das ist. Möchte funktionieren und meinen Rentenabschiedfahrplan einhalten. Es sind so wenige Wochen bis zur Rente. Wie kann es sein, dass ich nicht mehr alleine gehen kann?
In der Packstation wartet ein faltbarer Gehstock auf mich.
Ich will trauern. Ich will trotzdem funktionieren. Ich weine. Um mich und die Welt.
Wäre ich in einer anderen Zeit in einer anderen Kultur geboren, dann wäre ich eine der Tränenweiber. Der Trauerweiber. Ich weine.
(Hab lange darüber nachgedacht, aber ja: das darf in die Welt. )