Erster Tag der Lesungen zum Bachmannpreis. Mir ist ganz flau an Körper und Gemüt, was nicht an den Lesungen liegt, sondern an der gestrigen Impfung. Sie hat mich so ausgeknockt, dass ich Lesungen und Jury Diskussion liegend mit geschlossenen Augen verfolge. Ausfallbedingt gibt es nur zwei plus zwei Lesungen. Das liegt deutlich mehr in dem Bereich meiner Aufnahmefähigkeit, als die übliche drei plus zwei Kombination.
Zwei der Texte gefielen mir ausnehmend gut, zwei fand ich blaß und fad.
Jayrome C. Robinet liest auf Einladung von Mithu Sanyal den Text „Sonne in Scherben“. So ein Geschenk von Text als Einstieg!
Valeria Gordeev liest auf Einladung von Insa Wilke den Text „ER PUTZT“.
Der Wasserhahn. Typische Kalkflecken, scharfkantig umkrustete, matt versprenkelte, weiße, durchscheinende Flecken. Jeder Fleck ein getrockneter Wassertropfen. Oberflächenspannung. Die mineralischen Bestandteile sinken zu Boden und bilden eine Ablagerungsschicht, kristalline Strukturen, ein Zeichen der Wassergüte: Äonen Erdgeschichte sickern ins Grundwasser, bis sie ein kräftiger Ruck, Jahrtausende überwindend, eine Stichstraße hinauf an die Oberfläche befördert und sie auf Leitungen verteilt, in Leitungen verzweigt, kühl und sauber strömend zu den Menschen zurückkehren lässt. Kalkflecken kann man nur gern haben.
Wichtige Lebensentscheidung getroffen und nach und nach realisiere ich, dass ich bald nach einem Abzählreim leben kann. Hab alles auf die Goldwaage gelegt und festgestellt, dass sich meine Lebenszeit nicht auswiegen lässt. Nun zähle ich Erbsen, springe über Stöckchen und mache mir auf alles meinen eigenen Reim.
„Ich tue das, was ich in diesen Momenten meistens mache, ich denke an Mutter und versuche, mich in sie hineinzuversetzen. Ich sollte das nicht tun, denn dann spüre ich jedes Mal ihren Hass und ihren Wunsch, mich zu vernichten.“
Schmerzhaft zu lesendes Buch von Anne Rabe. Legt vergiftete familiäre Beziehungen frei.
Nach vier Tagen Eltern-Care-Support morgen nahtlos in die Fünf-Tage-Bullshit-Maschinerie. Sie nennen es Work-Life-Balance oder Familienfreundlichkeit.
Stundenlang sitze oder liege ich reglos, um die Verwandlung herbeizuführen. Zwei Sphären ohne Berührungspunkte, die beide nicht zu meinem natürlichen Habitat gehören. Diese Welt ist nicht gemacht für die Stillen. Der Wechsel von einer zur anderen Sphäre kraftraubend. Zwei schwarze Löcher und dazwischen mein Leben.
Soll niemand behaupten, dass ich keine Seufzerqueen bin.
Ich habe Malina von Ingeborg Bachmann nach ca. einem Viertel der Seiten aufgegeben. Es ist zu quälend und das wirklich nicht auf die poetische Art. Vielleicht ein anderes Mal, liebe Inge.
Dafür habe ich dann bis in die Nacht das Hörbuch von Leïla Slimani zu Ende gehört. Hab manche Stellen mehrfach gehört und mir das Textbuch heruntergeladen, damit ich ein paar Zitate daraus notieren kann. So eine Freude, wenn ich ein poetisches Buch entdecke und dann merke, dass es noch Nachschub gibt! Bei allem Elend in dieser Zeit ist die Bücherfülle das reinste Paradies. Egal wohin ich gehe und fahre immer sind Bücher im Überfluss da. Wenn mir das jemand in meiner Kindheit gesagt hätte, ich hätte es nicht fassen können vor Glück.
Außerdem hörte ich heute noch Patti Smith bei ihrem Rimbaud month zu. Sie erzählt wunderbar langsam und bedächtig. Es ist so berührend, wie sie immer weiter erzählt und erzählt und sich entschuldigt, dass das Video immer länger und länger wird. Sie trennt sich nur ungern von ihrem Thema, dabei hat sie doch einen ganzen Monat vor sich.
Höre fasziniert Leïla Slimani „Der Duft der Blumen bei Nacht“.
Die französisch-marokkanische Schriftstellerin verbringt eine Nacht im Museo Punta Della Dogana in Venedig. Sie erzählt von ihrem Leben und von ihren Erinnerungen. Ich bin wie verzaubert. Sehe gerade, dass es noch andere gute Übersetzungen von ihren Büchern gibt.
Verabschiede mich sofort von hier, muss ihr weiter lauschen.
Letztes Jahr um diese Zeit war ich in Kuba. Dieses Jahr platzen die Reisepläne und neue mag ich gerade nicht schmieden. Alles so fragil hier. Und ich bin weiterhin müde.
Ich ignoriere so viel von der politischen, gesellschaftlichen und sozialen Welt wie es nur möglich ist. Seit der Beginn der Pandemie schrillt mir vieles zu laut und zu schräg in den Ohren. Und im Kopf. Im Gemüt. Meine Energie reicht gerade so um meinen Alltag zu gestalten. Arbeiten um den Lebensunterhalt zu verdienen und mich zu sorgen.
In die Sammelmappe schreibe ich weniger, weil mein Leben zusammenschnurrt. Es fehlt der Glamer und der Atem. Es fehlen die Außensicht und die Impluse.
Alles ist genau auf mich abgestimmt. Auf das, was ich gerade leisten kann. Auf das, was ich geben will. Präzisionsarbeit. Ein Gleichgewicht wie auf der Rasierklinge. Ich bin gut darin.