Monika

Ist das Dornröschen?, fragte Kerstin andächtig.
Nein, Dornröschen ist das nicht. Obwohl – eine Prinzessin ist sie auch.
Kerstin konnte die Augen nicht von dem schlafenden Mädchen lösen. Sie lag einfach so da, im kleinen muffigen Zimmer hinter Opas Küche. Auf seinem Sofa lag sie und überall lagen Rosen. Rote, blühende Rosen auf der Prinzessin verstreut. Wie war sie dahin gekommen?

Woher kommt sie? Kerstin sah den Opa neugierig an. Sie ist nicht von hier – und wenn sie eine Prinzessin ist ….. Kerstin verstummte. Wusste nicht mehr, wie sie weiter fragen sollte. Der Mann, den alle Opa nannten, setzte sich in die Hocke, um Kerstin in die Augen sehen zu können.
Sie ist schön, flüsterte er.
Ja, sie ist wunderschön. Aber wer ist das?
Psst, sieh sie einfach nur an!
Kerstin betrachtete das Mädchen, das einfach nur da lag, die Augen geschlossen, das Gesicht ganz bleich. Weiß, hieß es im Märchen. Weiß wie Schnee. Aber Schneewitchen konnte das nicht sein. Die Haare waren nicht schwarz. Sie waren ganz blond. Vielleicht ein Engel? Aber Engel schlafen doch nicht, sagte sich Kerstin. Nur Dornröschen. Dornröschen schläft.
Kerstin wurde mit einem Mal ganz schlecht. Ihr Magen krampfte, sie hielt sich die Hand vor den Mund und kämpfte mit dem, was sich den Weg frei schaffen wollte.
Lassen wir sie schlafen, wisperte Kerstin und drehte sich um. Ich muss jetzt gehen, rief Kerstin. Meine Eltern sind bestimmt schon wach.
Kerstin stürmte erst aus dem Zimmer und schnell zur Tür raus ins Freie. Sie hörte den Opa noch rufen, aber sie rannte schon den Feldweg entlang, nicht nach Hause, denn dort warteten ihre Eltern noch lange nicht.
Dornröschen liegt bei Opa im kleinen Zimmer. Aber warum liegt sie nicht in ihrem Schloss? Wurde sie nicht längst erlöst? Kerstin lief jetzt mitten durch das Kornfeld, das sie ganz versteckte. Das Korn streifte ihr Gesicht. Weizen. Der Weizen mit den langen Borsten. Richtig kratzbürstig war er. Und kein bisschen golden. Golden – blond – war das Haar des Mädchens, das schlafend im Nebenzimmer von Opas Küche lag. – Und die Rosen. Die vielen Rosen! So viele hatte Kerstin noch nie auf einen Schlag gesehen. Schon gar nicht in Opas kleinem Zimmer. Rosen, dort wo immer alles so eng und klebrig war. Blumen in Opas kleiner Wohnung, das gab es nie. Dazu war kein Platz – und normal war das kleine Zimmer geschlossen. Opa war immer in seiner kleinen Küche, dort wo der kleine Herd und der Kühlschrank stand. Der alte, wackelige Tisch und die beiden Holzstühle mit dem Kalender an der Wand. Bilder von den Alpen waren das. Sonst gab es da nichts. Keine Blumen. Das Wichtigste an Opas Küche war das Fenster. Wenn er allein war, saß er meist am offenen Fenster und schaute hinaus. Aber Blumen hatte Kerstin da noch nie gesehen.
Kerstin blieb stehen. Das Korn war größer als sie. Sie brach ein paar Halme ab und hielt sie wie einen Blumenstrauß, Sie legte sich den Blumenstrauß über den Arm und wiegte ihn eine Weile. Dann drehte sie den Strauß um und fuhr mit den Borsten über den Boden und fegte zwischen den umgeknickten Halmen entlang.
Ich mach alles sauber, alles rein. Kehr den Schmutz nach draußen, sang sie vor sich hin.
Eigentlich wäre es schön, hier die Wohnung zu haben, dachte Kerstin bei sich. Aber wenn es regnet, schwemmt es mich davon. Wenn ich groß bin, dann würde ich gerne im Wald wohnen, denn dann pass ich nicht mehr in das Getreidefeld.
Die Großen, die haben es ganz schön schwer, wenn sie sich verstecken wollen.
Kerstin sah nach oben. Der Himel hatte sich zugezogen. Vielleicht würde es bald regnen. Sie wollte jetzt nach Hause. Ganz schnell. Wenn es regnete, dann konnte sie klingeln. Dann nass sollte sie nicht werden, das mochten ihre Eltern nicht.

In der Nacht träumte Kerstin von Dornröschen. Sie schlug die Augen auf und streckte ihre Hand aus. Komm Kerstin, komm. Wenn du da bist, dann können wir gemeinsam spielen. Dornröschen saß auf dem durchgesessenen Sofa in Opas Zimmer, in der Hand hielt sie eine Plastikblume. Kerstin fürchtete sich vor ihr. Aber da fing das Mädchen an zu weinen und zu schluchzen. Komm und hilf mir das Schloss wieder zu finden. Ich bin eingeschlafen und habe es verloren, wimmerte sie. Vielleicht können wir es gemeinsam wieder finden?

Als Kerstin am nächsten Morgen erwachte, war sie froh, dass sie noch in ihrem Bett lag. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie dem Flehen nachgegeben hätte. Wer weiß, wo sie dann heute wäre.

Aber weil sie die ganze Geschichte nicht so richtig verstand, nahm sie sich das Märchenbuch noch einmal vor. Lesen konnte sie noch nicht. Deshalb suchte sie die Wahrheit zuerst in den Bildern. Zwei Bücher gab es, in denen die Geschichte von Dornröschen erzählt wurde. Ein kleines Heft, das fast nur aus Bildern besstand und das dicke Märchenbuch in dem das Märchen ausführlich erzählt wurde. Auf jedem der Bilder sah Dornröschen anders aus. Anders als das Mädchen, aber auch anders als auf den anderen Bildern – und viel zu alt. In den Märchenbüchern war Dornröschen eine junge Frau, aber das Mädchen in Opas Zimmer war nicht viel älter als Kerstin.
Kerstin nahm die beiden Bücher mit in die Küche und befragte ihre Mutter.
Mama, wie alt ist Dornröschen?

Kerstins Mutter klapperte mit dem Geschirr und seufzte: Kerstin beeil dich. Du musst in den Kindergarten und dein Bruder ist noch gar nicht wach.

Kerstin legte die Bücher auf den Küchentisch. Ich beeile mich gleich und wecke auch Michi. Aber sag: Wie alt ist Dornröschen? Das ist wichtig.

Kerstins Mutter holte die Kakaodose aus dem Küchenschrank. So viertzehn oder fünfzehn, denke ich. Damit war Kerstin nicht zufrieden. Kann man mit viertzehn heiraten?

Nein, selbstverständlich nicht. Aber sie schlief ja auch viele Jahre bis der Prinz kam. Außerdem ist das lange her. Damals war vieles anders. Komm mach schon, hol  deinen kleinen Bruder aus dem Bett! Kerstins Mutter sah sie bittend an.

Ja, gleich. Aber sag mal: Ist es möglich, dass Dornröschen jünger ist? So alt wie Jutta vom zweiten Stock?

Verdammt, ich habe die Wäsche vergessen. Kerstins Mutter griff sich an die Stirn. Heute ist der Trockentag für den zweiten Stock. Ich muss sofort runter, die Wäsche abhängen. Mach deinem Bruder noch ein Brot – und ja, natürlich war Dornröschen auch mal kleiner. Jeder war mal klein, bevor er erwachsen wurde.

Jeder war mal kleiner. Darüber dachte Kerstin viele Tag nach und sie beschloss mit den Büchern irgendwann zu Jutta und deren Schwester Tanja zu ghen. Tanja war noch eine Klasse weiter  als Jutta. Die beiden müssten ihr bestimmt weiter helfen.

Vorher ging Kerstin aber auch noch mal an Opas Haus vorbei. Von weitem hätte es auch ein hexenhaus sein können, nur ohne Lebkuchen. Und im Wald stand es auch nicht, nur etwas am Dorfrand und eigentlich war es auch kein einzelnes Haus. Es waren viele nebeneinander. Alle winzig klein. Opas Wohnung war die erste und wie fast immer saß er an seinem Küchenfenster und lehnte an der Fensterbank. Als Kerstin die Straße entlang kam, rief er ihr gleich zu: Hallo Kerstin, da bist du ja. Wie geht es dir? Kommst du mich besuchen? Kerstin blieb vor dem Fenster stehen. Schläft sie noch, fragte sie ihn direkt. Der Opa sah sie mit großen Augen an. Selbstverständlich schläft sie noch, aber nicht mehr in meinem Zimmer. Das passt nicht für eine Prinzessin. Sie ist zu ihrem Schloss geflogen.

Jetzt war Kerstin wütend. Eine Prinzessin kann gar nicht fliegen!

Jemand muss sie mitgenommen haben, rechtfertige der Opa sich. Sie ist nicht mehr da. Willst du das Zimmer sehen? Es ist leer und auch die Rosen sind weg.

Nein, ich will gar nichts mehr sehen, rief Kerstin und rannte weg. Ich will nichts mehr sehen.

Kerstin machte sich noch lange Gedanken. Auch darüber, dass der Opa sie so anlog. Er wusste etwas über die Prinzessin aber er verriet es ihr nicht. Es musste doch einen Grund geben, warum sie in seinem Zimmer schlief.

Comments (3)

Sammelmappe » Blog Archive » Monika IIJanuar 11th, 2011 at 18:23

[…] erster Teil So sehr sich Kerstin auch den Kopf zerbrach, sie kam nicht weiter mit dem Geheimnis des schlafenden Mädchens. Sie war sehr wütend darüber, dass der Opa ihr so eine Lüge erzählte. Jedenfalls machte ise jetzt immer einen großen Bogen um sein Haus. Oder besser gesagt, sie vermied die Straße am Dorfrand so gut es nur ging. Dabei war sie vorher so gerne zu dem Opa gegangen. Nicht nur Sonntags, aber Sonntags war es am Besten, weil Sonntag sonst so langweilig, öd und anstrengend war. Kerstin hatte Sonntags ihr Kleidchen an und durfte sich nicht schmutzig machen. Michi war bei seiner Patentante am Ende der Straße und die Eltern wollten ihre Ruhe haben. Zwei Stunden in der Woche könnt ihr uns doch mal in Ruhe lassen, sagte Mutter oft. Es kann doch nicht sein, dass du immer dann auf Toilette musst und wieder klingelst, wenn wir uns nach dem Essen Sonntags mal hinlegen. Kerstin seufzste. Aber so war es nun mal. Kaum wusste sie, dass sie jetzt nicht mehr klingeln sollte und schon musste sie Pipi. Sie trippelte dann hin und her, aber das nutzte nichts. In der Woche war das kein Problem, da hatte sie ihre Spielkleidung an, ging ins Gebüsch, wo niemand sehen konnte und setzte sich. Aber Sonntags ging das nicht. Sie hatte das einmal versucht und das Ergebnis war eine Katastrophe. Wobei das schmutzige Kleidchen noch das kleinste Übel war. Januar 11th, 2011 in Schreiben | tags: Geschichten, Kinder, Mädchen, Monika, Schreiben […]

[…] Eben fällt mir die Geschichte von Monika wieder ein. Kerstin hat das Rätsel nicht gelöst und ich bin ausgewischen. Vielleicht hat sich etwas in mir gewehrt über ein totes Mädchen zu schreiben. Aber das ist nicht fair von mir. Denn für Kerstin ist das Problem noch lange nicht gelöst. März 8th, 2011 in Gedanken, Literatur | tags: Geschichte, Mädchen, Monika, Vorsicht Literatur! […]

[…] Monika I Monika II […]

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