Kalendersprüche
Stups es an, das Leben.
Dann kommt es in Fahrt.
Ich liebe Kalendersprüche. Besonders die hohlen, klugen. Die, die sich immer richtig anhören und die doch nie stimmen, wenn man zum dritten Mal drüber nachdenkt.
Wenn ich mir selbst einen Kalender mit Sprüchen zusammenstellen würde, dann kämen da so sinnfreie hinein wie der oben. Und ganz viele mit Herz und Liebe. So viel Kitsch würde ich mir gönnen, z. B.
wenn das Herz
verstummt
gefriert die Liebe
(Ihr merkt schon: die Stimmung ist übermütig. Und ihr so?)
bei uns lösen kalendersprüche regelmässig depressionen aus.
Kann ich gut verstehen.
So richtig wertvoll sind dabei jene Sprüche, die irgendwie motivieren und bei denen ich immer denke, wem ich die lieber nicht sagen sollte, wenn ich übermorgen noch einige Freunde haben will.
Also „Es gibt immer eine Lösung“ (gesagt zu jemandem, bei dem gerade eine Multiple Sklerose oder HIV diagnostiziert wurde).
„Trost ist immer nah“ (besonders gut zu Eltern, die gerade ihr Kind verloren haben).
„Was man wirklich kann, das schafft man auch“ (über den Satz freuen sich besonders Leute, die mit über 50 wegrationalisiert wurden und gerade die hundertste Ablehnung einer Bewerbung bekommen haben).
Und natürlich: „Das sind doch jetzt aber sehr krasse Ausnahmen“ (höre ich, wenn ich alltägliche Beispiele bringe).
Den Hit hat meine Mutter in dieser Beziehung erlebt, als sie mit frischer Querschnittlähmung im Krankenhaus lag. Da fragten irgendwelche Verwandten sie nach ihrem Ergehen, sie sagte ganz sachlich „Ich kann leider nie wieder gehen“ und bekam zur Antwort, sie solle nicht so pessimistisch sein.
Wie einfach solche Kalendersprüche das Leben machen. Ob es das ist oder sein könnte oder niemals war und sein wird, ob wir selbst oder die anderen es uns schwer machen – wer wird das schon abschließend beantworten können. Vorm Fenster blühen jedenfalls die Tulpen und flattern die Meisen umher. Sie stupsen. Und das Leben kommt in Fahrt.
Schließe mich Claudia Sperlich an.
Und manchmal kommt es mir geradewegs so vor, als ob Kalendersprüche heutzutage zu neo-liberalen Durchhalteparolen pervertiert werden.
Ganz schlimm fand ich neulich meinen Yogakalender, als ich mir zum ersten Mal bewusst die darin enthaltenen Sprüche zu Gemüte geführt habe.
Aufhänger war der Spruch: „Durch Übung und nicht durch Regeln lernt man das Leben und die Kraft richtig anwenden.“ (Marcus Tullius Cicero)
Das liest sich erst mal flott weg und klingt so, dass man zustimmen könnte.
Doch Halt …da hat einer den Stein der Weisen gefunden, dieser Marcus Tullius Cicero? Ja? Er weiß (bzw. wusste) wie das Leben und die Kraft richtig anzuwenden seien?
Was heißt denn bitteschön, ein Leben richtig anzuwenden — und was wäre falsch?
Gut, das könnte dann jede(r) Übende für sich selbst anhand der Lebensübungen (an Stelle von Regeln) herausfinden. Doch dann wären wir dermaßen auf der individuellen Erfahrungsebene, dass man diesen Spruch ad absurdum führen könnte. Bliebe noch das Spannungsfeld der Regeln.
Ein Blick in die Biographie dieses M. T. Cicero war sehr erhellend!