Brief an D.
»Du wirst zweiundachtzig. Du bist sechs Zentimeter kleiner geworden, du wiegst nur noch fünfundvierzig Kilo, und immer noch bist du schön, graziös und begehrenswert. Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe dich mehr denn je. Wieder trage ich eine verzehrende Leere in meiner Brust, die einzig die Wärme deines Körpers an dem meinen auszufüllen vermag.«
So beginnt die Liebesgeschichte von André Gorz, die er seiner Frau Dorine widmet.
Gute Zitate darf man auch ein zweites Mal bringen, dachte ich mir, als ich das kleine Büchlein heute zur Lektüre mitnahm und suchte in der Sammelmappe nach dem fuliminaten Anfangszitat – aber ich wurde nicht fündig. Wahrscheinlich ist es eine der Seiten, die dem großen Crash zu Beginn des Jahres zum Opfer gefallen sind. Also nichts wie rein in die Sammelmappe.
Samt Schluss:
Ich will nicht bei Deiner Einäscherung dabei sein; ich will kein Gefäß mit Deiner Asche bekommen. Ich höre die Stimme von Kathleen Ferrier, die singt: “ Die Welt ist leer, ich will nicht leben mehr.“, und wache auf. Ich lausche auf deinen Atem, meine Hand berührt Dich. Jeder von uns möchte den anderen nicht überleben müssen. Oft haben wir uns gesagt, dass wir sollten wir wundersamerweise ein zweites Leben haben, es zusammen verbringen möchten.“
Geschrieben hat André Gorz den Text zwischen März und Juli 2006. Im September 2007 nahm sich das Ehepaar gemeinsam das Leben.
[…] Brief an D. «Du wirst zweiundachtzig. Du bist sechs Zentimeter kleiner geworden, du wiegst nur noch fünfundvierzig Kilo, und immer noch bist du schön, graziös und begehrenswert. Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe dich mehr denn je. Wieder trage ich eine verzehrende Leere in meiner Brust, die einzig die Wärme deines Körpers an dem meinen auszufüllen vermag.» […]
Insgeheim „verfluche“ ich jeden, der mir derlei Dinge unterjubelt. Ich kann meinen Blick nicht abwenden, das Leben fasziniert mich, gleichermaßen würde ich einige Bereiche gerne ausblenden. Ich lese dies, denke darüber nach und werde in Melancholie zurückgelassen.
Ja, da wird einem eine Liebesgeschichte vor die Nase gehalten und zugeflüstert: So könnte es auch sein, das Leben. Es ist möglich, aber das Glück ist dir nicht beschieden. Es hat sich zu einem anderen auf gemacht. Dass dieses Glück ausgerechnet einem so präzisen, linken Denker und seine Frau traf, stellt die Liebe noch mal in ein besonderes Licht.
Aber andererseits darf man nicht vergessen, dass es da auch Krankheit und Schmerz gab – und dass es eine Geschichte ist. Zwar eine, die auf real gelebten Leben beruht, aber eben Geschichte.
André Gorz schreibt schon auf der zweiten Seite:
„Ich muss die Geschichte unserer Liebe rekonstruieren, um sie in ihrem ganzen Sinn zu erfassen. Denn sie hat es uns ermöglicht, zu werden, was wir sind, durch einander und für einander. Ich schreibe Dir, um zu verstehen, was ich erlebt habe, was wir zusammen erlebt haben.“
Er vergewissert sich mit dieser Geschichte ihrer Liebe.
Das Buch steht noch auf meiner Liste. Vielleicht wird es mehr verständlich wenn man auch über sein Werk „Kritik der ökonomischen Vernunft“ bescheid weiß.
Das Buch ist auch so gut verständlich. Aber ganz unabhängig davon kann es nicht schaden die anderen werke von André Gorz kennenzulernen. Wie gesagt: er war ein präziser linker Denker und ein Menschenfreund.