Was zählen Kinder?
Wie zählen Kinder?
Was ist uns ihr Leben wert?
Früher zählten sie eindeutig weniger als heute. Ein Lichtblick, den ich gerne wahrnehme. Leider gilt es nicht für alle Kinder, aber das Verständnis dafür, dass man sie schützen muss, ist heute weiter verbreitet. Genau wie die Einigkeit darüber, dass Gewalt keine Erziehungsmethode ist. Wir sind ein Stück weiter gegangen in die richtige Richtung. Aber sind wir weit genug? Leider nein, denn sonst würden mehr Menschen aufstehen und sich einsetzen. Für das Wohlergehen der Kinder.
In den letzten Tagen ist viel von „aktiven Täterschutz“ die Rede. Da kommt viel ans Licht. Nicht nur die Mißbrauchsfälle selbst, sondern auch die beschämenden Vertuschungsversuche. Obwohl, das waren keine Versuche. Es ist ihnen gut gelungen alles zu vertuschen. Die Opfer kleinzuhalten, sie zurückzuweisen. Da waren nicht nur die Täter aktiv. Da war auch ein Umfeld aktiv. Was nicht sein darf, davor werden die Augen geschlossen. Da wird weggekuckt. Damit man sich nicht schämt – und muss sich doch jetzt um so mehr schämen. Viel stärker schämen.
Was zählen Kinder? Es sind keine leeren Worte, wenn es heißt: Kinder sind unsere Zukunft. Kinder sind zu schützen. Immer und überall.
Von uns allen.
Meinst du wirklich, dass Kinder heute mehr zählen als früher? Bzw. was meinst Du mit „früher“. Mag sein, dass Kinder heute bei ihren eigenen Eltern mehr zählen, aber auch nur in einer bildungsbürgerlichen Schicht, wo sie mit Fürsorge und Bildungsehrgeiz überfrachtet werden. Früher „zählten“ Kinder vielleicht nicht extra, aber sie gehörten selbstverständlich zum Leben dazu, und zwar auch anderer Leuts Kinder. Heute werden anderer Leuts Kinder, auch Nachbarskinder, doch von sehr vielen Menschen nur als störend empfunden. Sonst gäbe es nicht die Schwierigkeiten, mit Kindern eine Mietwohnung zu finden, und die Klagen über Kinderlärm.
Die Politik und Justiz steuert jetzt zum Glück dagegen; ich habe jetzt gelesen, dass ein Gericht geurteilt hat, dass Kinderlärm keine Ruhestörung ist – oder war da sogar eine Änderung im Lärmschutzgesetz. Das ist ein Lichtblick.
Ja, das meine ich wirklich. Es herrscht ein breiterer Konsenz darüber, dass Kinder nicht mit Gewalt zu erziehen sind und dass Kinder Lebensraum brauchen. Dass das aber nicht in allen Familien umgesetzt wird, ist noch ein anderes Problem. Das hängt damit zusammen, dass unsere Gesellschaft auseinander trifftet. Das wird in der Zukunft zum Problem und nicht nur wegen den Kindern.
Dieses zum Leben dazu gehören, das du ansprichst, das hieß ja nicht, dass Kinder als Menschen mit Rechten angesehen wurden. Sie gehörten dazu, zur Arbeit, zu den Verpflichtungen, zu etwas was erledigt werden musste und andererseits möglichst schnell auch eingesetzt werden musste. Kinder hatte da keine Bedürfnisse zu haben.
Dass Kinder stören, dass war früher auch der Fall. Da hat sich nicht erst der Nachbar beklagen müssen.
Aus meiner Sicht, hat sich das Verständnis, zu den Kindern est nach den 70er Jahren verändert. Und das geht einher mit der Tatsache, dass erst da die Männer – oder ein Teil der Männer – begonnen hat, sich mit um Kinder zu kümmern.
Das was heute selbstverständlich ist: Dass ein Vater mit dem Kind zum Spielen geht, das gab es bis zu den 70er Jahren nicht. Kein Mann hätte bis zu diesem Zeitpunkt einen Kinderwagen geschoben! Geschweige denn ein Kind gewickelt oder wäre bei der Geburt dabei gewesen. Das hat sich erst nach und nach durchgesetzt. Unteranderem weil sich das breite Verständnis dafür, was ein Kind braucht veränderte.
Diese Vertuschungsversuche aus dem Umfeld, die jetzt bekannt werden, müssen leider allzu oft Opfer häuslicher und sexueller Gewalt erfahren. Das ist nicht nur in der katholischen Kirche so.
Zwar ist man heutzutage offener, aufmerksamer diesen Dingen gegenüber, aber es ändert sich nur zäh.
Ja, es ändert sich nur zäh – und das Ausmaß ist immer noch groß. Denn die Vertuschungen sind nicht mißbrauchsspezifisch. Das sind routinierte Reflexe sobald etwas auftaucht, was den gewohnten Ablauf stört oder vielleicht auch noch das Machtgefüge durcheinander bringen würde.
Ich habe mit Absicht, die Kirche nicht erwähnt. Denn was die Kirche vertritt, das sagt sie ja ganz offen. Sie möchte die Sexualität unterdrücken, in wie weit das gut gehen kann, das müssen sie selbst verantworten. Die Kirche und die Gläubigen. Aber der Kirche könnte es nicht gelingen alles zu unterdrücken, wenn es da nicht genügend Menschen gäbe, die mitziehen. Das gilt auch für die Fälle in der Schule und auch für die Fälle in der Familie.
Ob das mit der Unterdrückung der Sexualität zusammenhängt, das weiss ich nicht. Etliche Priester führen ja eine Partnerschaft im Geheimen, was bedeutet, dass man nicht ein Kind missbrauchen muss.
Alles, was ich von Kindesmissbrauch bisher weiss, sagt immer, dass es im Missbrauch um Macht geht.
Wer weiss, vielleicht erfahre ich etwas vom Sohn meiner Cousine, der mir letztens seine erste Mail geschrieben hat (zu früh, um etwas derart Heikles sofort persönlich zu hinterfragen). Er ist seit 2003 bei den Jesuiten, seit einem Jahr Priester. Aber könnte auch sein, dass er von selbst auf das Thema zu sprechen kommt.
Ich merke, ich habe mich mißverständlich ausgedrückt. Das liegt daran, dass ich das Thema Kirche und Mißbrauch nicht thematisieren möchte.
Selbstverständlich führt die Unterdrückung der Sexualität nicht unmittelbar zum Mißbrauch von Kindern. Es gibt Menschen, die sind ganz glücklich mit ihrer nichtausgelebten Sexualität. Aber schwierig wird es, wenn es zur Pflicht wird bzw. wenn es mit einem Gebot der Gehorsamkeit einhergeht. Aber wie gesagt, das ist nicht mein Thema. Das sollen die diskutieren, die damit etwas am Hut haben.
Mein Thema ist, dass die Gesellschaft eintreten soll für die Schwachen – in diesem Fall sind das die Kinder – aber dazu bedarf es Mut und Beharrlichkeit.