Verstehen
Ich kann dem Mantra „Wenn wir zusammenstehen, hat der Terror keine Chance“ nicht folgen.
Wie soll er keine Chance haben, wenn Menschen tot sind? Wenn Menschen schwer verletzt sind? Vielleicht viele Jahrzehnte lang mit den Folgen leben müssen? Die Opfer, die Angehörigen und ihre Liebsten.
Schreckliche Ereignisse müssen verarbeitet werden. Trauer braucht Zeit, Kraft, und Energie. Das gilt für Individuen genauso wie für eine Gesellschaft. Einfach so weitermachen wie bisher wäre einfach nur Verdrängung.
Dass die Politik dieses Vorgehen forciert kann ich verstehen. Die brauchen Kulissen. Kulissen für ihre Inszenierungen und Kulissen um dahinter zu agieren. Ablenken und nachladen. Die Gesetze verschärfen, die Bevölkerung überwachen, die Lobbyinteressen durchziehen. Das ist logisch.
Verdrängung bringt selten was Gutes. Wenn etwas Schlimmes passiert auf das wir keinen Einfluss haben, müssen wir uns dem nicht stellen. Wir müssen gar nichts.
Aber vielleicht erinnern wir uns wieder daran, dass das Leben zerbrechlich ist. Dass Seelen verletzlich sind. Dass wir schonend mit ihnen umgehen sollten. Mit unserem Leben, mit dem unserer Liebsten und dem unserer Mitmenschen.
Mir erscheint das Herausforderung genug.
Nachtrag:
Der Terror siegt nicht, er terrorisiert.
Und verstehe ich das richtig: Jetzt soll mehr Krieg für mehr Sicherheit sorgen?
Liebe Claudia,
Trauer braucht Zeit. Jeder und jede Betroffene wird das erfahrene Leid, die Verluste auf eigene Art verarbeiten, wahrscheinlich nie ganz. Mitgefühl und Solidarität helfen. Hoffentlich.
Ich persönlich habe niemanden bei den Anschlägen verloren, dennoch machen mich die Ereignisse betroffen und traurig, zuerst auch sprachlos, empfinde ich tiefes Mitgefühl für die Opfer und ihre Angehörigen.
Vor allem aber empfinde ich eine Art trotzige Wut und das große Bedürfnis, die Werte, für die unsere Gesellschaft steht und die mit den Anschlägen angegriffen werden, zu verteidigen. Und zwar indem ich sie auskoste, sie lebe.
Für mich war das ein sehr bewusster, dynamischer Prozess am Wochenende, vom ersten spontanen Rückzugsgedanken zu einer offensiven Haltung zu gelangen. Und dabei die schrecklichen Ereignisse und die andauernde Bedrohung nicht auszublenden und zu verdrängen, sondern mir ihrer ganz bewusst zu sein. Ich trage sie ständig mit mir.
Mein Mantra seit Samstag ist: Jetzt erst recht!
Jetzt erst recht hört sich sehr trotzig an. Und wann ist Trotz wirklich konstruktiv?
Terror mit Trotz zu „bekämpfen“ leuchtet mir auch nicht ein.
Aber vielleicht verwechsle ich das ja auch alles. Was kann ich mir unter einer offensiven Handlung in diesem Fall vorstellen?
Innig leben und lieben wäre eine Option, wenn wir es nur könnten.
„Keinen Fuß breit dem Terror nachgeben“ hieße für mich: ganz genau dasselbe machen, was ich auch getan hätte, wenn es die Anschläge nicht gegeben hätte. Damit diese kranken Hirne nicht die Genugtuung bekommen, dass wir uns nun ängstlich wegducken und nirgendwo mehr hin trauen, wo mehr als zehn Leute zusammen kommen.
Natürlich kann das nicht für Menschen gelten, die Angehörige verloren haben oder selbst verletzt wurden, das ist klar!
Selber sag ich das allerdings lieber im Konjunktiv, weil diese Rede ein wenig lächerlich ist bei jemandem, der die meiste Zeit im sicheren Homebüro verbringt und allenfalls mal einen schwach besuchten Discounter aufsucht. Aber tatsächlich denke ich dran, dieses Jahr mal einen Weihnachtsmarkt zu besuchen – um wenigstens ein bissen „zusammen zu stehen“ in Situationen, die auf einmal als womöglich gefährlich gelten.
Dass du zu den Ereignissen schreibst – danke dafür! Ich finde es fast ein wenig verstörend, wie die allermeisten meiner Blogrollblogs die Dinge beschweigen.
Nicht darüber zu schreiben, wäre ja auch eine Form des Verdrängens und daher für mich auch nicht angemessen.
Aber leider werde ich auch nicht mit einem Gefühl des Trotzes und des Widerstands mich Tag für Tag in meinem Büro an einem der sicher auch sehr gefährdeten Orte begeben.
Innig leben und lieben, wie du es schreibst, ist für mich schon eine offensive Handlung. Und wie ClaudiaBerlin schreibt: „ganz genau dasselbe machen, was ich auch getan hätte, wenn es die Anschläge nicht gegeben hätte“. Nicht ignorierend, sondern im Bewusstsein dessen, dass es Terroristen, Mörderbanden, Verbrecher oder wie man sie auch immer nennen will gibt, die uns diese Freiheit nehmen wollen. Ich kann meine Freiheit nur verteidigen, indem ich sie lebe, so sehe ich es. Zu dem Trotz, der sich in mir breitgemacht hat: Er ist ja kein Rezept und bestimmt nicht die einzige oder ausschließliche Haltung, die man einnehmen kann. Für mich empfinde ich ihn als hilfreich, damit kann ich dem Gefühl der Ohnmacht begegnen.
Meinen Blog möchte ich freihalten davon, keine Worte oder nur versteckte über diese Geschehnisse und schlimmen, gehirngewaschenen Menschen, von Geburt an ohne Liebe, denn man kann derzeit allüberall darüber hören, sehen, lesen. Ich will dem einfach NULL Raum geben!
Gruß von Sonja
@iris: sorry, es hat lange gedauert, bis ich eine Antwort geben konnte
„meine Freiheit verteidigen“ – vielleicht ist genau da der Knackpunkt. Ich kann das nicht so sehen. Denn für mich geht es nicht darum, dass mir „die Terroristen“ meine Freiheit nehmen. Wenn überhaupt dann das System. Dieses System, das diese jungen Männer mit ihrem Hass hat wachsen und gedeihen lassen. Sie sind ja nicht aus dem Nichts entstanden. Ein perfider Dronenkrieg mit seinen menschenverachtenden Nebenwirkungen hat sie herangezüchtet. Eine überzogene Menschenverachtung hat sie genährt. Sie kommen nicht aus dem Nichts, mit all ihrer Gewalt und dem Hass.
@wildgans: ich kann dich gut verstehen – obwohl es für mich anders ist