Im Zentrum von Donatella Di Pietrantonios Roman „Die zerbrechliche Zeit“, übersetzt von Maja Pflug, entfaltet sich ein eindringliches Porträt einer Mutter-Tochter-Beziehung, die von einer fragilen Dynamik geprägt ist. Die Tochter, die ihr Studium abgebrochen hat, kehrt in das kleine Dorf in den Abruzzen zurück, ein Ort, der nicht nur ihre Kindheit, sondern auch die Schatten der Vergangenheit birgt. Hier, in dieser scheinbar idyllischen Umgebung, wird die Zerbrechlichkeit der menschlichen Beziehungen auf eine Weise sichtbar, die kaum erträglich ist. Im ersten Drittel des Buches wird eine kaum auszuhaltende Spannung aufgebaut. Etwas ist geschehen, und die Leser*innen werden in einen Strudel aus Andeutungen und Erinnerungen hineingezogen. Die Erzählung entfaltet sich in kleinen, prägnanten Häppchen, die wie Puzzlestücke eine dunkle Geschichte zusammensetzen. Die Vergangenheit und die Gegenwart sind untrennbar miteinander verwoben, und die Dunkelheit, die den Ort umgibt, wird zu einem Charakter für sich. Die Figuren leben in einem ständigen Zustand der Ratlosigkeit, gefangen in einem Netz aus Schuld und Überlebensinstinkten. Die Last der Vergangenheit
Alle im Dorf sind verbunden durch die unsichtbaren Fäden der Vergangenheit, die sie aneinander binden und gleichzeitig voneinander trennen. Die Schuldgefühle der zufällig verschonten, die Wut und Hoffnungslosigkeit der Überlebenden, die Ohnmacht der Angehörigen – all dies wird in eindringlichen Bildern und emotionalen Dialogen sichtbar. Die Leser*innen werden Zeugen, wie die Vergangenheit nach Jahrzehnten wieder ins Beben kommt. Entscheidungen müssen getroffen werden, und die Wunden, die so lange offen geblieben sind, verlangen nach Heilung, auch wenn Wunder nicht geschehen. Der Titel „Die zerbrechliche Zeit“ könnte nicht passender gewählt sein. Alles in diesem Buch ist zerbrechlich: die Menschen, ihre Beziehungen, die Natur, die sie umgibt.
Langsam wird ein Muster daraus. Wieder sitze ich mit einem Buch in der Hand, das meine Genervtheit in die Höhe treibt. Nach der Großzügigkeit der Felsenbirne hat mich dieses Mal das Werk „Ein Raum zum Schreiben“ von Kristin Valla auf die Palme gebracht. Es ist nicht so, dass das Buch schlecht geschrieben wäre. Im Gegenteil, die Sprache fließt, die Sätze sind wohlgeformt, und die recherchierten Passagen, in denen Valla die Beziehungen anderer Autorinnen zu ihren Häusern, ihrem Schreiben und ihren Lebensumständen beleuchtet, sind tatsächlich faszinierend. Diese Einblicke in die Lebensrealitäten von Schriftstellerinnen sind wie kleine Fenster, die einen Blick auf die oft verborgenen Kämpfe und Triumphe gewähren.
Doch der weit größere Teil ihres Buches handelt von ihrer eigenen Suche nach einem Haus zum Schreiben. Diese Suche entwickelt sich zu einer Renovierungsarie, die nicht nur ihre Nerven, sondern auch ihre Familie und ihre – beinahe hätte ich Freundschaften geschrieben, aber das sind es nicht – ihre sozialen Beziehungen belastet. Die ständigen Erwähnungen von Kosten und Fehlentscheidungen, die sie trifft, ziehen sich wie ein roter Faden durch die Seiten. Es ist, als würde sie mit aller Macht versuchen, das Thema Schreiben in den Mittelpunkt zu rücken, es zu überhöhen, während ich das Gefühl habe, dass es letztlich immer nur um ein Mittelstandsstatusgedöns geht.
Die Beschreibungen ihrer Renovierungsprojekte sind oft so detailliert wie trist und feuscht. Die Wände, die sie streicht, die Böden, die sie verlegt, scheinen mehr Raum einzunehmen als die eigentlichen Gedanken, die sie zu Papier bringen möchte. Es ist, als würde sie versuchen, das Schreiben in einen physischen Raum zu pressen, der nicht existiert. Der Raum zum Schreiben, den sie so verzweifelt sucht, wird zu einem Symbol für ihre innere Zerrissenheit. Aber geht es ihr nicht immer nur um den Erfolg? Auch den finanziellen?
Die Bewertungen, die das Buch erhält, sind endlos positiv. Alle finden es toll, diesen Raum zum Schreiben, der keiner ist. Ich kann nicht nachvollziehen, warum. Vielleicht liegt es an einer Art von Verständnis der Welt, das aus einer überstrapazierten Ich-Perspektive heraus entsteht. Es ist, als ob die Leser*innen in Vallis Suche nach dem perfekten Raum eine Art von Bestätigung für ihre eigenen Träume und Sehnsüchte finden. Doch für mich bleibt die Genervtheit, die sich in mir aufstaut, unerklärlich.
Valla malt ein Bild von einem Leben, das viele anstreben, und doch bleibt es unerreichbar. Die ständige Suche nach dem perfekten Raum, nach dem idealen Ort zum Schreiben, wird zu einer Metapher für die Suche nach dem eigenen Platz in der Welt. Und während ich die Seiten umblättere, wird mir klar, dass es nicht nur um das Schreiben geht, sondern um die Frage, wo wir uns selbst verorten, wo wir uns sicher fühlen können, um unsere Gedanken und Gefühle auszudrücken.
In dieser Auseinandersetzung mit dem Raum, den wir für uns selbst schaffen, wird die Genervtheit zu einem Spiegel meiner eigenen Unsicherheiten. Vielleicht ist es das, was mich so sehr stört: die ständige Suche nach einem Raum, der nicht nur physisch, sondern auch emotional existieren muss. Ein Raum, der nicht nur Wände und ein Dach hat, sondern auch die Freiheit, die Gedanken fließen zu lassen. Und so schließe ich das Buch, mit einem Gefühl der Ausgeschlossenheit, als ob ich einen Raum betreten habe, der nicht meiner ist.
Ich kann das objektiv gar nicht richtig erklären. Es ist intensiv geschrieben und beleuchtet das Thema Geschenkökonomie von vielen Seiten. Das schmale Büchlein findet sich beim Gartenregal in der Buchhandlung. Ein Bestseller zum Mitnehmen und zum Verschenken. Die Autorin spricht wichtige Punkte an, ihre Sprache ist sehr poetisch. Alles Dinge, die ich mag.
Und trotzdem mag ich das Buch nicht, kann es nicht einmal ernsthaft lesen, weil in mir eine genervte Stimme laut mitliest und sich sarkastische und ironische Betonungen ausdenkt. Ich bin regelrecht allergisch gegen den Ton dieses Buches. Bei mir im Kopf hat sich da etwas eingenistet, das diese Allergie auslöst. Ungerechtfertig, aber überzeugend und hartnäckig.
Lasst euch aber nicht davon abhalten, das Buch zu lesen. Es ist gut. Aber auch gute Sachen können Nerven.
„Je mehr Namen eine Pflanze hat, desto größer ist ihre kulturelle Bedeutung.“
Ein Zitat aus dem Buch „Die Großzügigkeit der Felsenbirne“ von Robin Wall Kimmerer. Das ist die Frau, die mit dem Buch über das Geflochtene Seegras so bekannt wurde. Mein Verhältnis zu ihr ist etwas zwiespältig. Einerseits sind ihr Titel und die Intention der Bücher wunderbar, andererseits langweilt sie mich irgendwann beim Lesen, weil der Zauber und die Magie ihres Anliegens etwas penetrant rüber kommt.
Die Großzügigkeit der Felsenbirne ist ein schmales Buch. Das stimmt mich optimistisch.
Denn ihr Schinken über die Moose hat mir schon alle Geduld abgefordert.
Blühen heißt sich dem Leben hinzugeben. Es bedeutet aber auch, sich in Unsicherheit zu begeben. Mit voller Kraft und in Schönheit das Leben in die Welt zu tragen. So lange bis der Wind Samen und Blütenblätter weiter trägt. Der Sommer ist bald vorbei und hier ist selbst der Lebensherbst schon angebrochen.
Die Vergänglichkeit macht sich breit. Das Leben wird sehnsüchtiger dadurch, kostbarer und demütiger.
Ich kämpfe mich durch alte Strukturen, die tief in mir sitzen. Versuche sie aufzulockern, ab und zu einen Faden aufzutrennen, etwas altes Gewebe wegzurubbeln.
Rot wie das ungestüme Herz, das sich ganz dem Leben hingibt.
Im Bethmannpark löst sich die wilde Blumenpracht langsam auf. Die Farben leuchten immer noch intensiv, aber die Hitze und vorher der Regen, lassen die Beete zerfleddern und jetzt, jetzt hängt alles, die Blumen, die Blätter, die Stängel, die sich biegen, als wollten sie sich hinlegen, hinlegen und nie mehr aufstehen. Langsam setzt der Charme des Altweibersommers ein.
Dafür streift wieder ein Lüftchen durch die alten Bäume. Durch den Ginkobaum an der hinteren Mauer. Weil ich ständig in die Luft schaue, weil ich mitfliegen will, stolpere ich über das Gras und spüre schmerzlich, dass ich auf die Erde gehöre. Unverwurzelt und flügellos.
Dieser Sommer ist schon so festgezurrt wie eine dichte Erinnerung. Meine ganze Willenskraft steckt darin. Mein erster Rentensommer. Mein hart umkämpftes Trauerjahr.
Heiße Tage. Der erste Sommer seit über einem Jahrzehnt in dem ich mich gesundheitlich angemessen vor der Hitze schützen kann. Keine Verzweiflungsanfälle mehr, beim Anschauen der Wettervorhersage mit Temperaturen von über 35 Grad. Mit Grauen denke ich daran, wie ungeschützt Arbeiternehmerinnen manchmal an ihrem Arbeitsplatz sind. Einen Büroarbeitsplatz vor Hitze zu schützen ist nicht unmöglich. Genauso wie die Bewohnerinnen eines Pflegeheims, das in 2020 fertiggestellt wurde. Dort sollte es in den Zimmern und im Gemeinschaftsraum nicht über 30 Grad sein.
„Die Blume, die du in deiner Seele trägst, stirbt nie.“
Bin wiedereinmal durch den #Bethmannpark gestreift.
Bildbeschreibung: Mehrere kleine, weiße Blüten mit zarten Blütenblättern stehen in einem Strauß aus dünnen, grünen Stielen. Im Hintergrund schimmert weiches Sonnenlicht, das die Blüten leicht durchleuchtet.
Antje Schrupp hat ein neues Buch mit dem Titel „Unter allen Umständen frei“ geschrieben. Darin schildert sie die Lebensläufe der drei revolutionären Feministinnen Victoria Woodhull, Lucy Parsons und Emma Goldman und zeigt, wie sie im späten 19. Jahrhundert in den USA wirkten. Es war eine Zeit großer Umbrüche, ein „goldenes Zeitalter“, in das heute manche Menschen offenbar nostalgisch zurückblicken. Es war aber vorallem eine dunkle Zeit für die Mehrheit der Bevölkerung. Alle drei Frauen führten auf ihre Weise ein sehr selbstbestimmtes Leben und kämpften mit großem Einsatz für die Rechte der Frauen. Ihre Lebensgeschichten verlaufen nicht bürgerlich glatt, sondern sind schillernd, widersprüchlich und voller überraschender Wendungen.
Nebenbei erfährt die Leserin viel über die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen dieser Epoche – und stößt dabei auf etliche Tatsachen, die gängigen Vorstellungen widersprechen. Mich verblüfft beim Lesen immer wieder, wie viel sich von dem, was heute in den USA passiert, aus jener Zeit heraus erklären lässt. Es war eine Ära, in der es den Arbeiter*innen sehr schlecht ging und die Arbeitgeber über nahezu unangefochtene Macht- und Gewaltmonopole verfügten. Die Lebensrealitäten von Frauen sind aus meiner Sicht besonders geeignet, um ein lebendigeres und umfassenderes Bild von einer historischen Epoche zu bekommen als es die traditionelle Geschichtsschreibung oft vermittelt. Dass dies anhand von drei so außergewöhnlichen und radikal eigenständigen Frauen geschieht, macht das Buch umso faszinierender.
Ich habe es mit großer Begeisterung gelesen. Es regt zum Weiterdenken an. Nicht nur über Feminismus, sondern auch über Freiheit, politische Utopien und die Kraft des Widerstands.
Das Buch lädt ein, gängige Narrative zu hinterfragen, und macht Mut, gesellschaftlichen Wandel auch heute nicht für unmöglich zu halten. Es ist zugleich ein politisches, historisches und spannendes Buch.
Ich bin in die Natur gegangen – nicht um zu denken, sondern um zu blühen.
Die Obstbäume in den Kleingärten hängen voller Äpfel und Birnen. Die Zweige der Walnussbäumen werden von den Nüssen nach unten gedrückt. Das diesige, kühle Wetter verbreitet Herbststimmung. Diese wehmütige Stimmung, die darin erinnert das die Zeit unerbittlich fortschreitet. Die Illusion der mittleren Jahre, dass die Zeit eine scheinbar unerschöpfliche Ressource ist, ist längst enttarnt.
Ich schreite unter den Nussbäumen wie durch ein grünes Gewölbe, ich laufe die Berger Straße entlang und lande immer wieder im Bethmannpark. Bei den Blumen, bei den großen Gingkobäumen, im chinesischen Garten.
Ehe ich mich versehe, wird mein erster Rentensommer vorbei sein. Dieses Jahr ist so ganz anders gelaufen, als ich es mir jemals vorstellen konnte. Mit massiven gesundheitlichen Einbrüchen. Aber ich bin froh, um jeden Tag den ich jetzt arbeitsfrei verbringen kann. Ich bin dankbar und sehr bei mir selbst, wenn ich zum Blühen in den Park gehen kann. Ich bin erleichtert, dass das Bullshit-Bingo-Spiel ohne mich weiter geht.