Sie fliegen im Wind. Üben sich in Leichtigkeit. So zart, so verletzlich. Vergänglich. Sie trösten in dunklen Zeiten. Mich erinnern mich an die Kindertage und mein Herz wird weich.
Sie wachsen im Überfluss. Morgens noch war die Wiese gelb, dann zaubert die Natur diesen seidigen Flaum.
Es sind die kleinen Dinge, die meine Seele erfreuen. Ich möchte wegfliegen mit ihnen. Mit ihnen im Wind wirbeln. Aber meine Wurzeln sind fest verankert im Boden. Hier bin ich und bin wie ich bin. Veränderungen sind möglich, aber zäh und hart.
Nachhause kommen. So ein sanftes Gefühl. Ankommen und wieder einsinken in das eigene Leben. Im mentalen Gepäck so viele Erinnerungen. Mehr Bilder als Worte. Mehr Gefühle als Ereignisse.
Der Koffer ist längst schon ausgepackt, die Psyche sortiert noch das Erlebte, Gesehene, Gefühlte, Geträumte.
(Ein sicheres Zuhause. Das ist der Ort, den alle Menschen haben sollten.)
Ich tauche ein in die Landschaft, so wie ich sonst in die Literatur eintauche. Ich nehme sie in mir auf, mache kaum Fotos. Sie soll in mir verschwinden. Das Licht, die Farben. Alles.
Gestern der Regenbogen als wir auf der Rückfahrt von Rathlin Island waren. So breit, so weit, als wolle er die ganze Welt umarmen.
Die Küste von Nordirland ist atemberaubend. Sechs Tage lang war auf unseren Fotos ein unheimlicher, blauer Himmel ohne Wolken zu sehen. Jetzt besinnt sich das Wetter wieder auf seine lokale Besonderheit und zaubert Wolken, Sonne, Regen und gestern sogar ein Gewitter an den Himmel. Das Gewitter verschlief ich, den die atemberaubende Landschaft macht müde. Wind kommt jetzt auch auf. Wenn wir uns ein bisschen von der Küste entfernen sehen wir grün. Grün und dazwischen die Weiden mit den Mutterschafen und jeweils ein Lämmchen im Gras. Die Welt besteht gerade fast ausschließlich aus Landschaft und Bildern. Die Nachrichten und die Schlechtigkeiten der Welt sind rausgefiltert.
Luxusleben. Für ein paar Tage.
Hier in den Erinnerungen sehe ich, dass ich heute 17 Jahre Twitter-Jubiläum hätte. Auch diese Zeit ist vergangen. Wie sehr sich die Welt doch verändert hat und doch immer gleich bleibt. So viel Aufregung, so wenig das wirklich bleibt.
Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich einmal durch die Straßen von Belfast laufe. Lässt man die Unruhen weg, dann ist es vorallem eine Arbeiter*innenstadt. Textilindustrie und Werften vor allem. Alles sehr bodenständig. Aber im Öffentlichen gibt es viele Wandbilder, viele Symbole, die entweder einer der Konfliktparteien zuzuordnen sind oder die an Frieden und gegenseitigen Respekt erinnern. Wie immer im Leben kann der Wunsch von vielen durch die Aktionen einzelner Menschen schnell durchkreuzt werden.
Für die Werften sah es lange Zeit schlecht aus, aber jetzt kommen wieder Aufträge. Aus der Rüstungsindustrie. Es ist bitter. So bitter, wie die Welt heute eben ist.
Mein Bewegungsradius hat sich in den letzten Tagen wieder erheblich verkleinert. Die dritte Welle der Attacken holt mich ein. Ich fühle mich wie weggeworfen oder ausgespuckt. Jeden Tag aufs Neue denke ich: Heute wird es klappen. Und dann muss ich mich wieder der Tatsache stellen, dass mich die Attacke reitet wie es ihr gefällt.
Mein Countdown bis zur Nordirland-Reise zählt weiter runter. Bald geht es los und ich habe nicht die geringste Vorstellung, wie das laufen wird. Bisher komme ich alleine gerade mal bis zur nächsten Kreuzung. (Seit heute sogar wieder drüber.) Die Seele heilt nicht linear, sagen sie. Sie heilt in Kreisen oder Spiralen. Das heißt leider auch, dass der Tag morgen wieder schlechter sein kann. In den letzten vierzehn Tagen hatte ich einige Tage mit Anfällen, die ich nicht noch einmal erleben möchte. Ich schreibe das alles sehr ungern in die Sammelmappe, aber es ist nun mal wie es ist. Die Ereignisse verschwinden nicht, weil ich sie nicht ausstehen kann. Es zeigt sich immer mehr, dass diese Anfälle Teil meines Lebens sind. Noch hoffe ich innigst, dass sie auch wieder verschwinden. Aber sie sind so massiv, dass es wichtig ist, dass ich sie akzeptiere und ich einen Umgang mit ihnen finde. Dazu gehört auch, dass ich nicht verstecke, was da gerade mit mir passiert. Im realen Leben gelingt mir das etwas besser, als hier. Vielleicht liegt das daran, dass hier die Distanz größer ist. Aber da ich die Sammelmappe vorallem für mich betreibe, ist es wichtig, dass hier auch zum Ausdruck kommt, wie sehr ich um mein seelisches Gleichgewicht und meine körperliche Gesundheit kämpfe.
Der Weg ist das Ziel. Mein Weg ist das Weiterausprobieren. Schritt für Schritt. Im wahrsten Sinn des Wortes. Trippelschritt für Trippelschritt. Das kostet Kraft.
Und deshalb schreibe ich es heute hier rein. Weil es gerade mein Leben ist.
Es ist die Zeit, in der sich das Licht verneigt, den Tag zum Abschied feiert mit einem Hauch von Indigo. Die Dämmerung trägt ein Kleid aus Samt, durchwirkt mit Sternen, die noch zögern zu erscheinen. Die Silhouetten der Bäume winken sanft.
Die Zeit steht still und der Horizont hält den Atem an – ein Augenblick, der nicht Tag ist, nicht Nacht, eher ein Seufzer dazwischen. Die Welt ein magischer Spiegel, der alles und nichts zugleich zeigt.
Hier, im Blau, träumen die Farben davon, vergänglich zu sein. Und ich mit ihnen.
Der Regen hängt als feuchtes Leinentuch über dem Alten Hafen, ein Tuch, das atmet, als wolle es die Steine trösten. Das Wasser schläft nicht, nein, es drückt sich träge gegen die Kaimauer, schluckt Erinnerungen, die wie Algen an den Pfeilern kleben. Die Boote, diese schweigsamen Wächter, schaukeln an ihren Tauen, als zählten sie die Sekunden bis zum nächsten Sturm. Ihre Masten stochern im Himmel, der heute ein zerknittertes Grau trägt, das Grau von Tinte und verlorenen Briefen.
Ein Mädchen läuft, Sandalen klatschen auf das Pflaster, sie scheucht Tauben vor sich her, als vertriebe sie Geister. Die Möwen stürzen sich, als stürbe die Welt gleich. Ihre Schreie hängen im Dunst, der über dem Quai schwebt, vermischt mit dem Rauch der Brötchenöfen, dem Schweiß der Kräne. Hier, zwischen diesen Steinen, kann man nicht gehen, ohne dass die Jahre 1940 aus den Rissen kriechen. Varian Fry, der Namenlose, der Unerschrockene, der hier Flüchtlinge schmuggelte wie kostbare Fracht. Lisa Fittko, deren Biografie noch in meinen Händen brennt – ich sehe sie, wie sie um die Ecken huscht, den Kragen hochgeschlagen, als trüge sie die Angst von gestern im Nacken. Ihre Schritte hallen nach, zwischen den Fischkisten von heute, zwischen den silbrigen Leibern, die sich auf den Verkaufstischen winden, als suchten sie noch das Meer.
Eine Katze sitzt reglos auf einem Balken, ein Schatten mit Augen, die auf Abfall hoffen – oder auf Mäuse, die längst in den Geschichtsbüchern verstauben. Von irgendwo dröhnt Musik, zerrissen zwischen zwei Welten: Elektronisches Gitarrengewitter von links, von rechts zwei Mädchenstimmen, die durch den Verstärker wehen wie Sehnsucht in Blechdosen. «Je ne regrette rien», singen sie, aber der Hafen hier bereut alles. Immer.
Vorne, am Platz der verlorenen Hüte, döst die Verkäuferin hinter ihrem Berg aus Filz und Stroh. Ihre Lider sind schwer vom Warten auf Kundschaft, die nie kommt, oder auf ein Schiff, das seit 1943 ausbleibt. Wir gehen unsere Runden, wie man Gebete spinnt, bis der Abreisetag naht. Immer wieder. Der Alte Hafen, er hat uns in sein Netz gezogen, dieses Gewirr aus Stimmen, Rauch und Regen. Er trägt seine Jahre wie nasse Wolken. Und manchmal, zwischen Möwenschrei und Gitarrenriff, glaubst du, die Steine flüstern von Lisa. Von Jane. Von all den Namen, die das Grau nicht schlucken konnte.
Am Ende der Mole, wo das Meer beginnt, lehnt ein Stein. Darauf sitzt eine Katze, reglos, als wäre sie aus dem Licht geschnitzt. Sie blinzelt zur Fort Saint-Jean hinüber, wo die Touristenströme jetzt erwachen. Gleich werden die Glocken von Saint-Victor läuten, und der Hafen wird seine Maske wechseln. Doch jetzt, in dieser Stunde, atmet er noch. Tief. Als wollte er alles behalten.
Ich übe mich darin im Themen und Realitäten zu ignorieren. Solange ich emotional nicht damit umgehen kann, erscheint mir das Ignorieren die einzige realistische Idee des Umgangs mit den faschistischen Tendenzen zu sein. Verdrängen werde ich es nicht. Es ist eher die bewusste Entscheidung jetzt lieber zuerst die Pausetaste zu drücken und später wieder einzusteigen. Dazu gibt es zu viel zu verlieren. Das ist der eine Grund. Ein weiterer Punkt ist, dass es einfach nicht in mein Selbstbild passt, das was passiert kommentarlos hinzunehmen. Meine Haltung ist sehr klar in dieser Hinsicht: Ich empfinde tiefe Abscheu für die faschistischen Ideologien. Ob das wohl durchdachte Strategien sind, oder einfach flache, seichte Gedankenwelten, in denen es nur darum geht, sich den eigen Hintern zu vergolden ist mir dabei egal.
Mir wird schon noch etwas einfallen, um mich besser zu präparieren. Ich bin nicht wehrlos. Ich bin nur verblüfft, wie einfach dieser braune Sumpf überall eindringt. Wie selbstverständlich. Das ist so enttäuschend.