Schwestern
„Wir werden uns finden, wenn wir Schwestern geblieben sind.“
Lyrik. So kantig. So nah dran.
„Wir werden uns finden, wenn wir Schwestern geblieben sind.“
Lyrik. So kantig. So nah dran.
„Ich ertrage das Gewicht der Welt, aber manchmal schwankt meine Seele unter der Last.“ Clarice Lispector
Aber ich bleibe ein empfindsames Pflänzchen mit einer Knötchenflechte im Mund.
Ein Jahr der Trauer und des Suchens
Am Sonntag jährt sich der Todestag meiner Mutter. Ein Datum, das wie ein Schatten über mir schwebt, ein Anlass, um noch einmal genauer hinzuschauen auf das Trauerjahr, das mir so unerwartet – im wahrsten Sinne des Wortes – den Boden unter den Füßen weggerissen hat. Über zehn Jahre lang war meine Mutter schwer an Demenz erkrankt, und ihr letztes Lebensjahr war geprägt von purem Leiden. Ihr Tod war also nicht unerwartet, sondern vielmehr das Ende eines langen Abschieds, der sich wie ein zäher Schleier über unsere gemeinsamen Erinnerungen legte.
Nie hätte ich gedacht, dass mich die Trauersymptome so mitreißen würden. Trauer, das war für mich ein Konzept, das in Büchern behandelt wird, in denen von Phasen die Rede ist: vom Verleugnen, von der Wut über das Verlassenwerden. Ich hatte mir Trauer als ein einziges, langes Traurigsein vorgestellt, als ein ständiges Weinen, als viele Tränen, die in einem Meer von schönen Erinnerungen ertrinken. Ich dachte, irgendwann würde ich mein letztes Taschentuch vollgeheult haben, und dann würde es leichter gehen. So dachte ich, bis zu dem Tag, an dem meine Mutter starb und die Trauer meinen Körper voll unter Kontrolle brachte.
Der Boden unter meinen Füßen war nicht mehr stabil genug, und ich fand mich in einer Welt wieder, in der ich Halt suchen musste, um auf der Straße ein paar Meter gehen zu können. Trauersymptome, so lernte ich, können fast alle körperlichen Ausfälle sein. Bei mir war es das Gehen. Ich hatte das vorher noch nie gehört, aber die Medizin versichert es. Trauersymptome. Tag für Tag, Woche für Woche, kämpfte ich mich Schritt für Schritt zurück ins Gehen. Es war ein mühsamer Prozess, der mich an meine Grenzen brachte. Ich wollte wieder sicher sein, frei und leicht, doch der nächste Rückschlag kam immer unerwartet, wie ein Dieb in der Nacht.
Jedes Mal reagierte ich fassungslos und ungläubig. Warum passiert mir das? Warum ausgerechnet mir? Was macht mein Körper mit mir, wenn er mich vollständig aus dem Verkehr zieht? Mich abhängig von Begleitung macht? Warum weine ich nicht, wie andere Menschen das tun, und gut ist? Vielleicht habe ich mir gar nicht so viele Fragen gestellt. Ich war monatelang damit beschäftigt, mir die Welt zurückzuholen. Dreimal insgesamt. Beim dritten Mal war die Sorge, dass ich es dieses Mal nicht schaffe, immer größer. Es wurde jedes Mal schwieriger.
Auf dem Höhepunkt meiner Gehschwierigkeiten reiste ich nach Nordirland, in dem unheimlichen Wissen, dass ich dort keinen Fuß alleine nach draußen setzen kann. Aber das Risiko einzugehen, hat sich gelohnt. Ich bin zurückgekommen, und es waren so harte Wochen. Immer noch habe ich wenig Vorstellung davon, wie das Wechselspiel von Körper und Seele diese Symptome erzeugt. Am Anfang konnte ich es kaum selbst glauben. Was geht da in mir und mit mir vor? Die medizinischen Erklärungen sind dürftig, sehr dürftig. Doch ich habe gelernt, dass es wenig Sinn macht, nach Definitionen, Diagnosen und Erklärungen zu suchen.
Mir half nur, mich selbst aufzurichten und mich Schritt für Schritt wieder in Sicherheit zu bringen. Tag für Tag. Ich weiß nicht so recht, wie der Jahrestag auf mich wirken wird. Gelernt habe ich jedoch, dass Erinnerungen und Wiederholungen die Symptome auch wieder neu beleben können. Es könnte also sein, dass es wieder schwierig wird. Vielleicht. Nichts ist sicher. Das habe ich in diesem Jahr gelernt. Sicherheit ist etwas, was ich mir erkämpfen muss. Sie ist nicht einfach da, wie ein vertrauter Freund, der immer an meiner Seite steht. Vielmehr ist sie ein zartes Pflänzchen, das ich hegen und pflegen muss, um es wachsen zu lassen.
kein Startschuss
am Anfang
keine Flagge
auf dem Höhepunkt
und schon gar
kein Zieleinlauf
es nennt sich Leben
und die Zeichen
musst du suchen
„Das Wasser des Sees ist niemals süß“ von Giulia Caminito.
Wieder habe ich vergessen, von wem die Empfehlung für diese Autorin stammt. So oder so: es ist ein großartiges Buch.
Mir fehlt gerade die Zeit, genauer auszuführen, was mich so fasziniert hat. Aber ich möchte auch nicht, das das Lesen dieses Buches untergeht in meinem nie versiegendem Lesestrom. Es ist ein Buch über Armut. Ein Buch, das auf eine subtile Weise zeigt, dass Bildung eben nicht immer ein Garant ist, der Armut zu entrinnen. Obwohl es sehr explizit fiktional ist, wird es auch sehr deutlich, dass Armut nicht heißt, auf der moralisch guten Seite zu stehen (ich weiß nicht, wie ich das auf die Schnelle besser formulieren kann). Es zeigt eher auch die Aggressionen, die Armut erzeugt. Die inneren und die äußerlichen.
Ich habe es sehr gerne gelesen.
Die Blogeinträge nehmen Bezug auf ihr Buch zu den radikalen Feministinnen aus dieser Zeit. Ich habe beim Lesen des Buchs sehr viele Zusammenhänge besser sehen und verstehen können, die mir vorher kaum bewusst waren.
Nicht dass das etwas daran ändern könnte, dass wir in dunkle Zeiten hineinschlittern. Schon hineingeschlittert sind, sagt mir mein Gefühl. Aber wenn schon dunkel, dann lieber in Begleitung einer Taschenlampe, die ein bisschen Licht verschwendet.
Es tut mir leid, dass ich mit der Sammelmappe so nachlässig umgehe. Vorallem dann, wenn ich auf liebe Kommentare nicht rechtzeitig antworte. Menschen verdienen Aufmerksamkeit. Menschen, die mir Zeit widmen verdienen besonders meine Aufmerksamkeit. Aber hier in der Sammelmappe ist mein Verhältnis zu Aufmerksamkeit sehr gespalten. Oft möchte ich meine Gedanken hier in ein Form bringen, sehr selten habe ich Diskussionsbedarf. Schriftliche Diskussionen überfordern mich schnell. ( Mündliche genauso, wenn ich ehrlich zu mir bin.) Und trotzdem schreibe ich in der Sammelmappe durchaus auch für andere Menschen. Sonst könnte ich es ja auch einfach lassen und alles in mein kleines Heft schreiben, in dem ich mein persönliches Tagebuch führe. In den letzten Jahren entfernte ich mich innerlich immer mehr von der Sammelmappe und bin dann doch wieder ins Schreiben gekommen. Mal bin ich da, mal bin ich nur sehr flüchtig hier. Aber ich bin froh, dass ihr in all diesen Jahren immer wieder hier vorbeikommt und eure Spuren hinterlasst.
Dankeschön!
Wir kümmern uns um Sie von Hanna Bervoets ist ein dicker, lesenswerter Wälzer. Er erzählt von Frauengesundheit, vom Auf und Ab des Lebens, von Verstrickungen und von Plänen, die manchmal aufgehen und manchmal schiefgehen. Er erzählt von Frauenleben in Beziehungen, die sich finden, die vergehen, die sich bewähren, erneuern oder sich auftreiben.
Ich habe es gern gelesen.
Rainer Mühlhoff: Künstliche Intelligenz und der neue Faschismus
Der Autor vertritt die Meinung, dass der gesellschaftliche Diskurs über KI von den Schäden ablenkt, die diese Technologie bereits heute mit sich bringt. Dadurch werden die zunehmend faschistischen Tendenzen verdeckt, die sich im Zusammenspiel von Tech-Industrie und neuer Rechter bilden.
Für mich selbst kann ich sagen, dass diese faschistische Entwicklung eine meiner größten Ängste ist – sowohl aktuell als auch mit Blick auf die Zukunft. Meine Angst davor ist so groß, dass ich es vermeide, mich mit diesen Szenarien auseinanderzusetzen. Mir fehlen in dieser Hinsicht wichtige Filtermechanismen. In gewisser Weise liegt meine Seele da blank und wehrlos.
Trotzdem habe ich mich an das Buch gewagt – und das war gut, denn die Herangehensweise des Autors hat mir sehr geholfen. In diesem Buch geht es viel um Definitionen, Einordnungen und Kategorien. Die Entwicklung der KI wird skizziert, ihre Macht beschrieben und die maßgeblichen Akteure benannt. Die sonderbaren Gedankengebäude der Ideologien, die auf den KI-Hype setzen, werden erläutert – ebenso ihre Beziehungen untereinander. Es wird erklärt, warum sie letztlich alle in dieselbe antidemokratische Richtung tendieren, auch wenn sie sich in ihrer Logik zum Teil widersprechen.
Behandelt werden unter anderem Konzepte wie Transhumanismus, Effektiver Altruismus, Longtermismus, säkulare Eschatologie, Cyberlibertarismus und viele mehr. Zum Schluss wird der Begriff des Faschismus aufgedröselt und aus heutiger Sicht detailliert betrachtet.
An manchen Stellen merke ich, dass der Autor seine Fäden etwas lose zusammenzieht, um seinen eigenen Interpretationen einen Sinn zu geben. Das stört mich jedoch nicht, da er zuvor viele Fakten liefert, die mir helfen, mir ein eigenes Bild zu machen.
Zum Schluss kommt bei der obligatorischen Frage „Was tun?“ der Vorschlag: antidemokratische Kräfte isolieren. Darüber kann ich nur weinen. Der Zeitpunkt dafür ist von den politischen und gesellschaftlichen Akteuren leider verpasst worden. Vor zwei Jahren hätte es noch Möglichkeiten gegeben. Heute kann ich keine Hoffnung mehr sehen.
Im Zentrum von Donatella Di Pietrantonios Roman „Die zerbrechliche Zeit“, übersetzt von Maja Pflug, entfaltet sich ein eindringliches Porträt einer Mutter-Tochter-Beziehung, die von einer fragilen Dynamik geprägt ist. Die Tochter, die ihr Studium abgebrochen hat, kehrt in das kleine Dorf in den Abruzzen zurück, ein Ort, der nicht nur ihre Kindheit, sondern auch die Schatten der Vergangenheit birgt. Hier, in dieser scheinbar idyllischen Umgebung, wird die Zerbrechlichkeit der menschlichen Beziehungen auf eine Weise sichtbar, die kaum erträglich ist.
Im ersten Drittel des Buches wird eine kaum auszuhaltende Spannung aufgebaut. Etwas ist geschehen, und die Leser*innen werden in einen Strudel aus Andeutungen und Erinnerungen hineingezogen. Die Erzählung entfaltet sich in kleinen, prägnanten Häppchen, die wie Puzzlestücke eine dunkle Geschichte zusammensetzen. Die Vergangenheit und die Gegenwart sind untrennbar miteinander verwoben, und die Dunkelheit, die den Ort umgibt, wird zu einem Charakter für sich. Die Figuren leben in einem ständigen Zustand der Ratlosigkeit, gefangen in einem Netz aus Schuld und Überlebensinstinkten.
Die Last der Vergangenheit
Alle im Dorf sind verbunden durch die unsichtbaren Fäden der Vergangenheit, die sie aneinander binden und gleichzeitig voneinander trennen. Die Schuldgefühle der zufällig verschonten, die Wut und Hoffnungslosigkeit der Überlebenden, die Ohnmacht der Angehörigen – all dies wird in eindringlichen Bildern und emotionalen Dialogen sichtbar. Die Leser*innen werden Zeugen, wie die Vergangenheit nach Jahrzehnten wieder ins Beben kommt. Entscheidungen müssen getroffen werden, und die Wunden, die so lange offen geblieben sind, verlangen nach Heilung, auch wenn Wunder nicht geschehen.
Der Titel „Die zerbrechliche Zeit“ könnte nicht passender gewählt sein. Alles in diesem Buch ist zerbrechlich: die Menschen, ihre Beziehungen, die Natur, die sie umgibt.